PETER UNFRIED über CHARTS : Wer ist der Neil Young der Grünen?
Das Wahlkampftagebuch (IV): Heute mit Inlandsnachfragern, Crosby, Stills, Nash und „Konzept-Paul“ Kirchhof
1. Samstagabend auf einem Straßenfest im Berliner Stadtteil Kreuzberg. Miese Blues-Kapellen duellieren sich mit den DJs der Kneipen nebenan. Verbranntes Steak zwei Euro. Große Stimmung also. Auf dem leicht siffigen Bürgersteig krabbeln Inlandsnachfrager. So sagt man ja heutzutage zu Kindern. Jedenfalls macht Paul Kirchhof das. Jetzt kommt noch so ein Mittelklasse-Inlandsnachfrager und zeigt auf einen Laternenpfahl. Da hängt das neue Wahlplakat des grünen Direktkandidaten. „Das ist Ströbele“, kräht das Kind.
Ach, was? „Ja, Christian Ströbele“. Der Kleine ist vielleicht fünf oder so. „Und die …“ Er hebt die Hand und zeigt auf das Gewusel in der Dieffenbachstraße: „Die wählen alle Ströbele.“
Ich ließ ihn stehen.
Es war alles gesagt.
2. Dass heute eine Single der Rolling Stones erscheint, interessiert mich nicht mehr. Andererseits höre ich seit Wochen nur noch Crosby, Stills, Nash & sometimes Young – obwohl von denen auch nichts Neues mehr kommt. (Das grade erschienene Album von Steven Stills bestätigt das.) Warum höre ich grade jetzt diesen alten Schmu?
Ich konsultierte Neil Young . Seine Analyse: „C, S, N & Y rufen ein ganz bestimmtes Gefühl hervor. Unsere Fans wollen es wieder aufleben lassen, weil es ihnen bestätigt, dass sie selbst noch am Leben sind.“ Trotzdem, sagt Young, könnten C, S, N & Y im optimalen Fall eine „sehr hingebungsvolle und aufrichtige Musik machen“.
Auffällig ist aber, dass man bei stundenlangem Testhören am Ende stets jenseits der häufig doch bloß nostalgischen und oberflächlichen Folkharmonien von C, S, N und bei Solo-Young und seiner ziemlich lebendig-gegenwärtigen Elektrogitarre landet.
3. Bisweilen entsteht der Eindruck, als sei im Falle einer Bundestagswahl am 18. 9. einerseits alles möglich und andererseits alles unklar. Der Eindruck wird von Medien verstärkt und ist falsch. Zumindest was das Wahlergebnis anlangt. Es ist klar, dass die Union stärkste Partei wird. Es ist klar, dass die Union die Bundeskanzlerin stellt. Es ist klar, dass die Grünen in die Opposition gehen. Es ist klar, dass Schröder bereits zu Hause ist.
4. Don’t forget: Die Wahl findet nur statt, weil Schröder ein Gefühl hatte.
5. Doch manchmal entsteht aus Erbärmlichem auch etwas Gutes: Die Kürze des Wahlkampfes. Mehr Zeit zur Lösung der Probleme von uns Menschen? Sicher. Real ist der Kurzwahlkampf überlebensnotwendig, weil er jetzt schon kaum mehr auszuhalten ist.
6. Im Angesicht eines TV-Duells zwischen Claudia Roth (Die Grünen) und Guido Westerwelle (FDP) musste ich an einen schönen Satz des Bundespräsidenten denken (der ja in Westerwelles Wohnung geboren wurde). Der Satz: „Orientierung können nur die Orientierten geben.“
7. Es gibt offenbar etwas, was noch fixer zu erledigen ist als demnächst die Steuererklärung (zehn Minuten) im Zeitalter von Finanzminister Paul Kirchhof. Das ist die Demontage von Kirchhof durch Merkel und ihren Kauder. Vom Mister X zum Mister Ex? Es ist jedenfalls putzig, wenn man sonntagmorgens liest, wie ihn die FAS vorsichtig im Konjunktiv fragt, was er tun würde. Und er antwortet („Ich werde …“) bestimmt und ausschließlich im Indikativ, wie er sein Steuerkonzept umsetzen wird (und damit auch die angeschlossenen Konzepte zur Erhöhung der Geburtenrate sowie der Deflation des Singledaseins und der Homosexualität). Dafür sei er schließlich berufen worden. Am Sonntagabend sagt dann die Kanzlerkandidatin im ZDF, dass er keinesfalls umsetzen wird, weswegen er berufen wurde. Oder dass er berufen wurde, um es nicht umzusetzen? Oder dass er berufen wurde, aber dass das nichts mit seinem Konzept zu tun hat. Weil, ehrlich gesagt – und für Ehrlichkeit steht die CDU –, das Konzept passt nicht. Nicht jetzt. Nicht so.
8. Kirchhof ist übrigens kein reaktionärer Neoliberaler, sondern ein „Erneuerer in Freiheit“ (Copyright: Agentur Kirchhof.) Kein Wunder, dass die FDP vernarrt in ihn ist.
9. Wer ist der Neil Young der Grünen: Joschka Fischer?
Fragen zum Wahlkampf? kolumne@taz.de MORGEN: Bernhard Pötter über KINDER