piwik no script img

Archiv-Artikel

PETER UNFRIED über CHARTS Ich habe Fehler gemacht

Das Wahltagebuch (VIII): Entschuldigung, aber wird wirklich Kiesinger neuer Kanzler?

Kann ein Mensch logisch erklären, wozu man eine Woche nach der Wahl Umfragen macht, wie die Wahl ausgehen würde? Halloooo! Die Wahl ist vollzogen. Das Ergebnis ist da. Selbst wenn die Bundestagswahl nicht alles geklärt haben sollte: Auch die Frage, ob die Leute sich Merkel als Kanzlerin wünschen, ist längst beantwortet. Und zwar eindeutig und anders als die B.Z. vermutet – mit nein.

Aber was passiert? Der Wahnsinn geht nicht nur weiter, er wird auch weiter von uns Medien befördert. Nicht nur das: Der Spiegel schreibt weiter müde-bemüht gegen Schröder an. Eine bizarre Allianz aus Bild, FAZ , Tagesspiegel und solchen Kalibern müht sich, aus dünnsten Politikerfloskeln wie „in einer Demokratie sollte man niemals nie sagen“ den so genannten Druck auf den Bundeskanzler als immer größer erscheinen zu lassen. Grünenpolitiker wie Reinhard Bütikofer lassen sich benutzen, um die dünne Merkel-Theorie zu befördern, die Union werde den Kanzler stellen, weil sie ja stärkste Fraktion sei. Hat es Willy Brandt und Helmut Schmidt nie gegeben? Wenn das so sein sollte, muss die nächste Regierung von Kurt Georg Kiesinger geführt werden, dem damit historische Gerechtigkeit widerführe.

Wer nun einwirft, Kiesinger habe 1969 schlicht keine Mehrheit organisiert bekommen, ist für die derzeitigen Verhältnisse extrem geerdet. Selbst wer nur darauf hinweist, dass Kiesinger nicht regieren kann, weil er tot sei, beweist eine bemerkenswerte Nähe zur Realität. Kurz gesagt: Die These, allein Schröder plage „Realitätsverlust“ ist nicht aufrechtzuerhalten. Zum einen steht dagegen das Bonmot von Peter Sloterdijk: „Der Kanzler leidet nicht an Realitätsverlust. Im Gegenteil: Er genießt ihn.“ Das ist ja mal lustig, kratzt aber nur an der Oberfläche.

Was ist Realität? Eine Realität ist, dass Gysi die Wahl Schröders im dritten Wahlgang nicht ausschließt. Eine Realität ist, dass Merkel keine Mehrheit hat, selbst mit Bütikofers Stimme nicht. Wenn überhaupt, ist ganz Deutschland ein einziger Realitätsverlust. Um das Bild vom Macho Schröder, dem „Tyrannen“ und „Cohiba-Kanzler“ zu befördern, stellen interessierte Medien wie die FAS sogar musealen Nervensägen Platz zur Verfügung. Ist denn nichts zu platt? Das verkürzt eine historische, neue Herausforderung für Parteien und Land auf unangemessene Weise. (Wenn auch Bütikofer aufpassen sollte, dass er Schröder nicht mal im Dunkeln über den Weg läuft.) Die Ansinnen von Politikern werden empört zurückgewiesen, nun sollten, bitte schön, auch die Journalisten aufarbeiten, was nicht so ganz optimal gelaufen sei.

„Die konservativen Jungchefs in den Chefredaktionen von Spiegel, Zeit und sonst woher müssten sich nach ihrem konservativen Ehrenkodex eigentlich in das Schwert stürzen“, sagte der neben Schröder besonders vom – seiner Meinung nach – Tendenzjournalismus angepisste Joschka Fischer in seiner politischen Lebensbilanz in der taz. Nichts komme, „kein einziges Wort der Selbstkritik“.

Dabei sind nicht alle so störrisch wie der Spiegel. Manche, die monatelang das Gute an Merkel herbeifantasierten, schreiben jetzt: „Warum die CDU verloren hat.“ Weil Merkel nämlich alles falsch gemacht hat und vor allem von den „Menschen“ keine Ahnung hat. Das ist ja indirekt fast eine Art der Selbstkritik.

Um es kurz zu machen: Die Grünen haben ihr Ergebnis von 2002 diesmal fast gehalten. Ich selbst habe vor der Wahl auf Seite 1 der taz Fragezeichenjournalismus gemacht und die Zeile durchgesetzt: „Das Dilemma der Grünen: Wer wählt schon Verlierer?“ Es geschah auf der Grundlage von Umfragen und der Annahme, das fehlende Funktionsargument und das meiner Meinung nach absurde Beharren Fischers auf einer rot-grünen Mehrheit werde sich negativ auswirken. Ich bitte um Verständnis, wenn ich mich wegen Lebenslust und familiärer Verantwortung nicht ins Schwert stürze.

Ich möchte aber sagen: Es war falsch. Ich habe handwerkliche Fehler gemacht, ich entschuldige mich dafür. Nicht Fischer, sondern ich war der Irrealo. Ich werde es besser machen.

Fragen zur Zeit? kolumne@taz.de Morgen: Arno Frank über GESCHÖPFE