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Archiv-Artikel

Ortstermin: Feuilletonist Raddatz bei Sterbehelfer Kusch Egomane trifft Populist

Einige husten so, dass man Angst hat, sie halten nicht bis zum Ende der Veranstaltung durch. Brillen, Falten, Kostüme und graue Haare bei den Damen, Glatze und Bauch in der Bundfaltenhose bei den Herren. Es kann sein, dass es die nämlichen Alten sind, deren Positionen Roger Kusch, damals CDU, von 2001 bis 2006 als Justizsenator Hamburgs vertrat. Law and Order.

Nun ist Kusch in die Sterbehilfebranche gewechselt, und sie sitzen hier, etwa 130, im Saal „Los Angeles“ des Hotel Radisson in Hamburg, und wollen was übers Sterben wissen. Es gehen nur wenige, als Fritz Joachim Raddatz nach ziemlich genau einer Stunde, unter Verweis auf ein Augenleiden, aufbricht.

Der 79-jährige Ex-Feuilletonchef der Zeit lässt sich über den Selbstmord aus. Welche großen Literaten brachten sich um? Welche bildenden Künstler? Raddatz verleiht mit leiser Stimme Banalitäten Bedeutsamkeit. Er behauptet, das Thema Suizid werde „verdrängt“, dabei wird ständig darüber gequakt, nicht zuletzt von ihm.

Raddatz macht, was Applaus bringt: Er spricht dem „anmaßenden“ Staat das Recht ab, „über das Ende meines Lebens zu bestimmen“. Er sagt: „Hannelore Kohl hatte doch natürlich Sterbehilfe und Sterbehelfer.“ Er erwähnt den Freitod des Ehepaars Helga und Eberhard von Brauchitsch, er spricht über Robert Enke und zeigt, dass er alles nur vom Hörensagen kennt. Er spricht über seinen Vater, dem er 1945 gerne Sterbehilfe geleistet hätte, als der sich mit offener TBC die „Lunge raus kotzte, raus brach, raus spuckte“.

Er verlangt vom Staat, dass er sich raushält, und fordert drei Sätze später die Juristen im Bundestag auf, sich „mit dem Thema auseinanderzusetzen“. Er hat sich ein Grab gekauft und einen Grabstein. Den Zeitpunkt, an dem er seinem Leben ein Ende setzen wird, will er Kusch, der ihn flattiert, nicht nennen.

Dann geht Raddatz und das Publikum stellt Kusch Fragen. Über seinen Verein, der seit einem Jahr existiert, 170 Mitglieder hat und nach Angaben von Kusch in diesem Jahr zehn Menschen beim Sterben geholfen hat. Der Jurist Kusch, der über den „Vollrausch“ promoviert hat, lobt die bayerische Polizei und kritisiert die in Hamburg, mit der er „unerfreuliche Erfahrungen gemacht hat“. Seine Wohnung wurde durchsucht, nachdem er Sterbehilfe bei einer schwer kranken Frau öffentlich angekündigt hatte. Seine Zuhörer wollen wissen: „Wie geht das mit der Sterbehilfe vonstatten?“, und bekommen keine klare Antwort. Immerhin sagt Kusch, dass er die Gesetze genau beachtet, über jeden, der Sterbehilfe will, ein psychiatrisches Gutachten angefertigt wird, und im übrigen die „Sorgfaltskriterien, die sich in der Schweiz bewährt haben“, gelten.

Die Mitgliedschaft in Kuschs Verein kostet 100 Euro pro Jahr oder 1.000 Euro für „lebenslange Mitgliedschaft“. Das hat was, bei Menschen, die ihren Tod planen. Eine Enthusiastin echauffiert sich, dass die Sterbehelfer kein Honorar nehmen. Sie würde gerne das Drei-, Vierfache bezahlen, für diese „unglaublich wichtige Tätigkeit“.

Weder Raddatz noch Kusch reden über das eigentliche Thema: Schuld. Denn darum geht es, wenn der Vater der Mutter beim Sterben hilft oder umgekehrt, oder die Kinder es tun. Wer am Leben bleibt, trägt Schuld mit sich rum. Wer glaubt, dass durch Kuschs Club keine Schuld entsteht, weil Hilfe da ist, irrt sich. Die Sterbehelfer helfen nur technisch, das Moralische bleibt. Wenn man sich die Gesichter der Alten im Saal „Los Angeles“ anschaut, sieht man: Die wissen das. ROGER REPPLINGER