: „ÖTV-Chefin Wulf-Mathies unterschätzt ihre Klientel“
■ Interview mit Peter Grottian, Politologe an der FU Berlin
taz: Sie haben eine Studie zum öffentlichen Dienst vorgelegt, die eine hohe Akzeptanz für Lohn- und Arbeitszeitkürzungen bei oberen Lohngruppen einerseits und Umverteilung zugunsten der Geringverdienenden andererseits belegt. Kommt dieses Ergebnis für Sie überraschend?
Peter Grottian: Nein, wir haben 1979/80 eine Umfrage gemacht, wo die Ergebnisse ähnlich waren. Ich glaube, das Solidaritätspotential wird zu gering eingeschätzt.
Heißt das, daß Innenminister Kanther und ÖTV-Chefin Wulf- Mathies ihre eigene Klientel seit über zehn Jahren unterschätzen?
Das ist meine These. Die gesellschaftlichen Großorganisationen – also Gewerkschaften und öffentliche Arbeitgeber – fahren eine Strategie, die an denen orientiert ist, die schon im öffentlichen Dienst drin sind. Da geht es um 1,2 oder 1,8 Prozent mehr Lohn. Gleichzeitig ist aber das Krisenbewußtsein in der Bevölkerung groß, sie ist realistischer, mutiger und unkonventioneller als die Gewerkschaftsspitze. Beim öffentlichen und halböffentlichen Sektor, also inklusive Kirchen und Wohlfahrtsverbände, geht es um acht Millionen Arbeitnehmer und 700 Milliarden Lohnkosten jährlich. Das ist ein Riesenpotential. Zusätzlich gibt es beim öffentlichen Dienst mehr politische Steuerungsmöglichkeiten, Arbeitnehmer mit Lohnsenkung und der Schaffung von neuen Arbeitsplätzen zu konfrontieren. Wenn ein Französischlehrer weniger arbeitet, dann muß ein zweiter Lehrer eingestellt werden.
Also kommt dem öffentlichen Dienst eine Vorreiterrolle zu.
Genau. Außerdem wäre das eine Chance, im öffentlichen Dienst umzubauen. Man muß sich etwa fragen, ob Arbeitszeitverkürzungen beim Verfassungsschutz mit Neueinstellungen beantwortet werden sollen. Andererseits herrscht bei Schuldnerberatungen schon jetzt wegen des Personalmangels das totale Chaos.
Sie üben starke Kritik an ÖTV- Chefin Wulf-Mathies und Innenminister Kanther. Hakt es tatsächlich an diesen beiden Personen oder an den Institutionen, die sie repräsentieren?
Es hängt natürlich an den Institutionen. Mein Vorwurf ist, daß die beiden Verhandlungspartner trotz aller Interessengegensätze unter dem Tisch Händchen halten und nur die bedienen, die schon im öffentlichen Dienst drin sind. Dabei könnten sie eine Lawine lostreten. Würde den oberen Gehaltsgruppen Einkommen und Arbeitszeit gekürzt und nach unten umverteilt, käme auch die Beamtenschaft um diese Lösung nicht herum. Und es gäbe einen ungeheuren Überschlagseffekt auf Kirchen, Wohlfahrtsverbände und andere Organisationen, die nur auf den Ausgang der ÖTV-Verhandlungen warten. Interview: S. Schütt
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