OFF-KINO : Filme aus dem Archiv – frisch gesichtet
Man bräuchte überhaupt nicht zu versuchen, die ganze Welt zu verstehen, das würde sowieso nicht klappen, hat die französische Regisseurin Agnès Varda einmal gesagt. Stattdessen solle man besser bei seinen Nachbarn anfangen. Genau das hat Varda 1975 mit „Daguerrotypes“ getan: Ihr Essayfilm porträtiert die Handwerker, Ladenbesitzer und Kunden von nebenan, „alles innerhalb von 50 Metern“ von ihrer Haustür in der Rue Daguerre entfernt. Vardas Blick ist dabei – wie eigentlich immer – freundlich, interessiert und niemals denunzierend, aber es mischen sich auch kritische Töne in ihren eigenen (sparsamen) Kommentar: Dass sich „die Gegenstände in den Schaufenstern in den letzten 25 Jahren nicht von der Stelle gerührt haben“, dass politische Diskussionen anderswo geführt werden, aber nicht in diesem Viertel, weil das schlecht fürs Geschäft sei – dies alles lässt Varda eine eher erstarrte Welt konstatieren, in der sich die Leute zugunsten der Sicherheit eines geregelten Tagesablaufs selbst das Träumen versagen. Im Gegensatz dazu steht Vardas halbstündiger Montagefilm „Salut les cubains“ aus dem Jahr 1963: Entstanden aus rund 1.500 Fotos, die Varda bei einer Kubareise machte, dokumentiert der Film den (politischen) Aufbruch und die (musikalische) Bewegung, die sich durch die geschickte Montage des Fotomaterials mitteilen. Begleitend zum Kinostart von Vardas Selbstporträt „Die Strände von Agnès“ zeigt das Arsenal eine Werkschau mit Filmen der Regisseurin. („Daguerreotypes“, OmU, 7./ 9 .9., „Salut les cubains“, OmEU, 9. 9. Arsenal)
In die Zeit der Psychedelic-Ära führt „Flicker“ von Nik Sheehan: Damals wurde eine Erfindung des Schriftstellers und Malers Brion Gysin populär, die dem Rezipienten halluzinogene Erfahrungen ohne Drogen möglich machen sollte: Bei der „Dream Machine“ dreht sich ein Zylinder mit Schlitzen um eine Glühbirne – sitzt man mit geschlossenen Augen davor, stimuliert das stroboskopartige Licht bestimmte Bereiche des Gehirns. Mit Archivmaterial, gelungenen visuellen Nachempfindungen des „Flicker“-Lichts sowie Interviews mit Gysin-Bewunderern wie Genesis P-Orridge, Kunsthistorikern, Wissenschaftlern sowie den Bewusstseinserweiterungsexperten Marianne Faithfull und Iggy Pop macht sich Sheehan in seiner ebenso seriösen wie unterhaltsamen Doku auf die Spuren ihres ebenso einfallsreichen Erfinders. (OF, 6. 9., White Trash)
Geht es in „Flicker“ noch mehr oder weniger ohne Drogen, so hat der Protagonist von Clint Eastwoods düsterem Biopic „Bird“ (1988) davon mehr als genug genommen: Der berühmte Bebop-Saxofonist Charlie Parker erweist sich als maßlose und selbstzerstörerische Figur, die ein Leben mit Heroin, Alkohol und vielen Frauen zwischen billigen Absteigen und der psychiatrischen Klinik lebte. Mit 34 Jahren war er tot. Eastwood entwirft diese Lebensgeschichte in einem Puzzle aus nicht chronologischen Rückblenden und Erinnerungen, in dem Forest Whitaker den Musiker als trotzig-kompromisslosen Jungen auf der Suche nach Anerkennung interpretiert. (4./5. 9., Open-Air-Kino Kulturfabrik Moabit) LARS PENNING