: Nur ein Aspekt der Meinung -betr.: "Freiheit unterm Schleier", taz vom 6.12.94
Betr.: „Freiheit unterm Schleier“, taz vom 6.12.
Es stimmt, daß Frau Ahadi in ihren Ausführungen sehr deutlich zum Ausdruck gebracht hat, daß sie nach all dem, was sie erlebt hat, nicht mehr bereit ist, einen Diskurs über das Für und Wider islamischer Interpretationen zu führen.
Im Hinblick auf die leidvolle Erfahrung von Frau Ahadi ist diese Sichtweise nur allzu gut nachvollziehbar. Dennoch handelte es sich im weiteren Diskussionskontext nur um eine Sichtweise. Die dort anwesenden ZuhörerInnen vertraten zum Teil erheblich divergierende Ansichten, die meiner Meinung nach ebenso ernstzunehmen sind.
Unsere Absicht war und ist, mit größtmöglicher Offenheit den Prozeß des Meinungsaustausches zu fördern. Im Interesse eines objektiven Meinungsbildes sind wir daran interessiert, unterschiedliche Realitäten und Wahrnehmungen in Erfahrung zu bringen, damit wir uns Wahrheiten annähern können und nicht der Bestätigung vorgefertigter Meinungen unterliegen.
Zu diesen Wahrheiten, denke ich, gehören ebenso beispielhafte Aussagen, daß eine analytische Situationsbeschreibung über den Iran ohne die kulturhistorischen, ökonomischen und politischen Hintergründe dieses Landes nicht möglich ist.
Zu einfach und zu bequem – und somit apolitisch - ist es, die gesamte Palette von Menschenrechtsverletzungen, die Unterdrückung und Ausbeutung von Frauen, aber auch von Männern „dem Islam“ in verantwortungsloser Weise als Verursacher anzulasten.Dieses durch westliche Sichtweisen geprägte Meinungskonstrukt gilt es zu dekonstruieren.
Es ist auf der Veranstaltung darauf hingewiesen worden, daß um die Kernaussagen des Koran erfassen zu können, erst einmal das Zusammenspiel von Weltmächten und den nationalen Herrschern sowie chauvinistischen Tradierungen in ihrer Historizität beleuchtet werden müssen.
Ebenso ist gesagt worden, daß es schwierig ist, über „den Islam“ zu sprechen, und zwar nicht nur, weil sich z.B. Schiismus und die orthodoxe Hauptrichtung des Islam, die sich als sunnitisch bezeichnet, unterscheiden, sondern auch eine Vielfalt von Lebenswelten, Verhaltensweisen und Empfindungen existent sind, in und mit denen Muslime ihre Religion tatsächlich leben.
Auch der Koran und die Sunna sind vielschichtig, bedeutungsreich und nicht immer leicht zu verstehen. Vereinfachungen und Bestehen auf Eindeutigkeit und Dogmatismus scheinen mir ein Problem des „modernen Denkens“ .
Auch die iranspezifische Situation bezüglich Bildung und Berufstätigkeit wurde in der Diskussion höchst unterschiedlich eingeschätzt. So wurde z.B. berichtet, daß gerade für Frauen in den ländlichen Regionen erfolgreiche Alphabetisierungskurse durchgeführt worden sind.
Im Hinblick auf die Veranstaltung finde ich es sehr bedauerlich, daß Ihre Berichterstattung nur einen Meinungsaspekt beinhaltet.
Zerrin Dalhoff, Senatsverwaltung für Kultur und Ausländerintegration
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