Nils Schuhmacher Hamburger Soundtrack: Verteufelt schwierig
Lenin sagt mal über die Musik, dass er sie nicht allzu oft hören könne. „Sie macht mich nervenschwach, man möchte liebe Dummheiten plappern und die Menschen streicheln, die in einer dreckigen Hölle solche Schönheit erschaffen können.“ Aber, so fügte er hinzu, streicheln dürfe man niemanden, „sonst wird einem die Hand abgebissen. Man muss sie schlagen, erbarmungslos schlagen, obwohl wir im Ideal gegen jegliche Gewaltanwendung sind. Hm, hm, eine verteufelt schwierige Angelegenheit“.
Mit Blick auf die aktuellen Verhältnisse ist man vielleicht geneigt, das zu unterschreiben, und auszurufen: „Ich befinde mich in derselben ethisch-moralischen Zwickmühle wie er.“ Allerdings ist dies zu kurzsichtig gedacht. Schließlich ahnt man schon, dass Lenin den Facettenreichtum und die vielfältigen Funktionen der U- und der ihm noch nicht bekannten Pop-Musik wohl einfach grob unterschätzt hat. Auch kommunikationstheoretische Sender-Empfänger-Modelle wurden nicht gewürdigt.
So musste ihm entgehen, dass Musik zwar die erwähnte sedierende Wirkung hat, aber genauso den Soundtrack für ein von (bösen oder guten) Absichten geleitetes Handeln abgeben kann. Und auch im schillernden Begriff der Schönheit verbergen sich ja höchst unterschiedliche Dinge. Die einen werden von irgendeiner Radio-Soße berührt, die anderen von einer seltenen, traurigen Melodie. Und was sie dann daraus machen, steht noch einmal auf einem anderen Blatt – und wir wären wieder im Bereich der Rezeption.
Und zum Beispiel bei Julien Baker. 2015 erschien ihr folkhaftiges Erstlingsalbum „Sprained Ankle“, dessen Zerbrechlichkeit sich aus dem Zusammenspiel von karger Instrumentierung und Introspektion ergab. Man kommt eigentlich nicht drumherum, die Musik als „schön“ zu bezeichnen.
Man muss aber eben hinzufügen: Schönheit verknüpft sich hier mit Düsterkeit und Hoffnung, irgendein warmer Südstaaten-Wind transportiert Coming-of-age-Geschichten über sexuelle Orientierung, Rauschmittel und Religiosität in einem engen Korsett gesellschaftlicher Konventionen heran und Leninisten müssen noch mal nachdenken. Nun auch zu den Liedern der im vergangenen Jahr erschienenen zweiten LP, die Baker am Mittwoch in der Elbphilharmonie vorstellt.
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