„Nicht viele Menschen mit gleichen Verdiensten“

■ Ein Porträt des am Mittwoch verstorbenen Altbischofs Kurt Scharf / Ein Leben lang für Abrüstung und Gerechtigkeit / Kein bequemer Christ

„Sitzt er bald - altersblind, kraftlos und starrsinnig allein im Gestühl? Mit Marx in der Hand statt der Bibel?“ schmierte ein längst vergessener Schreiberling namens Boenisch am 24. November 1974 in der 'Bild'-Zeitung über den damals 72jährigen „Sympathisanten der Terroristen“. Kurz zuvor hatte der das RAF-Mitglied Ulrike Meinhof „zu einem seelsorgerischen Gespräch“ in der Haftanstalt Moabit besucht, um sie - vergeblich - zur Aufgabe des Hungerstreiks zu bewegen, der kurz darauf mit Holger Meins ein erstes Todesopfer forderte.

Zwei Wochen nach Erscheinen der Schmähschrift in dem Springer-Blatt, auf einer Kundgebung in der Berliner Hochschule für Musik, würdigte ein Mitchrist den „alten Mann, der das Übermaß an Arbeit und Angriffen bis heute zu tragen vermag“, so: „Wir haben nicht viele Menschen in Deutschland, die gleiche Verdienste um unser Land haben über Jahrzehnte hinweg. Ich möchte mir Berlin ohne das Wirken dieses Mannes lieber nicht vorstellen. Gott hätte gewiß Anlaß genug, ihn einer Kirche zu nehmen, die sein Wirken wenig zu schätzen weiß.“ Gott ließ sich Zeit. Fast 16 Jahre lang konnte Kurt Scharf, der sich „keiner anderen Autorität als Jesus Christus verantwortlich“ fühlte, beharrlich weiterwirken: für Frieden, Abrüstung und Versöhnung, für weltweite Gerechtigkeit und Solidarität mit Schwachen und Ausgegrenzten.

Noch wenige Stunden vor seinem Tod empfing er einen führenden Vertreter der kirchlichen Friedensbewegung in der DDR. Als der 87jährige am Dienstag nachmittag in einem Bus der Berliner Verkehrsbetriebe starb, befand er sich auf dem Heimweg von Senta Maria Klatt. „Santa Maria“ war ab 1934 Sekretärin der Bekennenden Kirche in Brandenburg und damit Scharfs Mitkämpferin im Widerstand gegen die Nazis. Sie blieb seine engste Mitarbeiterin bis zu beider Pensionierung Ende 1977 - wie Scharfs Frau Renate oder die verstorbene Brigitte Gollwitzer eine der Frauen, deren Rolle im Kampf gegen die Nazis, gegen Wiederbewaffnung und Restauration nach 1945 oder in der Friedensbewegung der 80er Jahre bis heute unterbelichtet ist und ohne deren Wirken im Hintergrund die öffentliche Rolle der „großen alten Männer“ des Protestantismus kaum denkbar gewesen wäre.

Es fällt schwer, von den zahlreichen Verdiensten Kurt Scharfs einzelne herauszuheben. Als damaliger Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche (EKD) hatte er entscheidenden Anteil an der Erarbeitung der Ostdenkschrift zur Aussöhnung mit Polen, mit der die EKD den Boden bereitete für die Entspannungspolitik der späteren SPD/FDP -Koalition. Bis zuletzt hat er sich als Vorsitzender der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste für eine entsprechende Erklärung der EKD gegenüber der Sowjetunion bemüht. Scharf war ein früher Vorreiter der ökumenischen Bewegung und setzte sich innerhalb der EKD vehement für Programme des Weltkirchenrates, wie zum Beispiel das umstrittene „Zur Bekämpfung des Rassismus“ ein. Die aktive Teilnahme des nach seinen Erfahrungen im Ersten Weltkrieg zum Pazifisten gewordenen Kurt Scharf in der Friedensbewegung der frühen achtziger Jahre hat wesentlich zur Glaubwürdigkeit dieser Bewegung beigetragen. Dabei galt ihm die Gewaltfreiheit bei der Austragung von Konflikten als höchstes Gebot - mit Ausnahme des Tyrannenmordes, wie ihn Dietrich Bonhoeffer als notwendige Maßnahme gegen Hitler beschrieben hatte.

Als letzter „gesamtdeutscher“ Bischof bis zur Trennung in EKD und DDR-Kirchenbund 1961 mußte Scharf sich von der damaligen Ostberliner Regierung und ihrer Presse als „Apostel der Frontstadtpolitik“ und Kriegshetzer beschimpfen lassen. Was viele seiner Gegner und Kritiker letzlich überzeugte, war sein tiefer Glaube „in die Wirkkraft des Evangeliums“. Sein Auftreten war stets geprägt durch Entschiedenheit in der Sache und zugleich unerschütterliche Freundlichkeit. Sein ehemaliger Student an der Berliner Kirchlichen Hochschule in den bewegten 60er Jahren und heutiger Pfarrer Volkmar Deile beschrieb das zu Scharfs 80. Geburtstag am 21. Oktober 1982 so: „Ihm nimmt man es ab, wenn er Andersdenkende Bruder oder Schwester nennt, was bei vielen Christen zur reinen Formel geronnen ist, in der keine Liebe mehr ist.“

Andreas Zumach