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Archiv-Artikel

NINA APIN LEUCHTEN DER MENSCHHEIT Kopfschüsse im Theater der Ehre

Die 23-jährige Hatun Sürücü starb, weil sie lebte „wie eine Deutsche“. Sie wurde im Februar 2005 von ihrem jüngeren Bruder erschossen. Ein Ehrenmord – an einer Bushaltestelle mitten in Berlin. Obwohl der Familie die Tatbeteiligung nie nachgewiesen werden konnte, geht die Justiz bis heute von einer Gemeinschaftstat aus. Der Fall Sürücü sandte Schockwellen durch Deutschland, die bis heute nachwirken. Aus der hitzigen Debatte über Zwangsehen und Parallelgesellschaften erwuchs das Schreckgespenst vom muslimischen „Integrationsverweigerer“, das Islamhasser wie Thilo Sarrazin nährt.

Sechs Jahre nach der Tat bleibt vieles ungeklärt. Plante die 10-köpfige kurdische Familie gemeinschaftlich den Tod Hatuns, wie mehrere BelastungszeugInnen behaupteten? Oder war der Mord nur das Werk eines irregeleiteten Bruders? Ein Buch rollt den Fall neu auf. Zwei Journalisten (Matthias Deiß, Jo Goll: „Ehrenmord – ein deutsches Schicksal“, Hoffmann und Campe, 2011) besuchten den Mörder im Gefängnis, reisten nach Ostanatolien und Istanbul, wo zwei Brüder und eine Schwester jetzt leben: ein zerfallender Familienclan mit archaischem Ehrbegriff in Nahaufnahme. Der französische Neuropsychiater Boris Cyrulnik („Scham“, Präsenz Verlag, 2011) schreibt über Kulturen, die sich auf die Ehre berufen: „Im Theater der Ehre wird die Haltung in Szene gesetzt. (…) Jeder Makel an diesem äußeren Eindruck führt zu einem Bruch, einem Trauma. Er verdient den Tod.“

Hatun Sürücü, die das Kopftuch ablegte, allein lebte, verletzte diese Ordnung. Gewalt war die Antwort. „In Ehrenkulturen ist die Gewalt nie weit“, so Cyrulnik, „Gewalt gegen eine Frau, die ihren Bauch einem Mann gegeben hat, den nicht die Gesellschaft für sie ausgewählt hat, Gewalt gegen den Mann, der sich weigert, seine Familie mit ihrem Leben zu schützen …“ Der Mörder bezahlt nun bei der deutschen Justiz, was er glaubte, der anatolischen „Ehrgesellschaft“ zu schulden.

Die Autorin ist taz-Redakteurin Foto: privat