NADINE MICHEL ÜBER DAS NEUE STUTTGART : Schwaben 21
Manch einer sorgt sich schon um Stuttgarts neues Krawallimage. Doch das Gegenteil stimmt: Stuttgart wird cool, Kehrwoche war gestern. Angesagt sind Großdemos, Gleisblockaden und Hausbesetzungen. Mit ihrem Protest gegen das Mammutprojekt „Stuttgart 21“ zeigen die Schwaben, dass auch sie anders können. Wer Anzugträger mit Trillerpfeife und Rentnerin mit Protestplakat sieht, gewinnt den Eindruck, dass sie sich fast befreit fühlen, endlich mal aufmüpfig sein zu dürfen. Im Schutze vieler Tausender, die genauso bürgerlich sind wie sie, macht ihnen das sichtlich Spaß. Statt auf ihre Motorenstärke sind die Bürger der Autostadt neuerdings stolz auf ihre eigene Lautstärke.
Diese Demonstranten werden so leicht nicht mehr ruhig zu stellen sein. Am Mittwoch riss ein Bagger brachial die Grundfeste des Bahnhofs ein. Ein Bild, das zeigen sollte: Euer Protest kommt zu spät, ihr könnt nichts mehr ändern. Doch wer gedacht hat, mit einem Abrissbagger Fakten schaffen zu können, um so dem Protest den Wind aus den Segeln zu nehmen, hat überhaupt nicht verstanden, worum es den Menschen geht. Die Demonstrationen werden nicht abflauen, denn den Bürgern liegt nicht einfach nur ein denkmalgeschütztes Gebäude am Herzen: Sie haben es satt, dass ein derart invasives Bauvorhaben von oben durchgeprügelt wird. Dass Verträge und Gutachten unter Verschluss bleiben. Dass eine Bürgerbefragung rigoros abgelehnt wird. Und dass nun die Tür zum Rathaus verriegelt bleibt, weil sich der Oberbürgermeister vor seinen eigenen Bürgern fürchtet.
Aber die Menschen haben inzwischen ein anderes Verständnis von Demokratie. Sie wollen mitreden und mitgestalten. Und genau dieses Bild strahlt Stuttgart derzeit aus. Unabhängig davon, ob das konkrete Projekt überhaupt noch zu stoppen ist, liegt darin schon jetzt ein Sieg.
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