Mülltrennung im Kapitalismus : Die roten Ameisen sind tot
Der Mensch ist nicht ewig. Er hat nur sehr wenig Zeit, es wäre schade, sie dem Müll zu widmen.
„Ich verstehe schon, dass es Ihnen nicht leichtfällt, Ihren Müll zu trennen, Herr Kaminer”, meinte mein netter Nachbar Johannes zu mir. „Sie sind in einem anderen Land aufgewachsen, in einem anderen kulturellen Kontext, in dem die Mülltrennung keine Selbstverständlichkeit ist wie bei uns. Sie müssen sich aber bitteschön die Mühe geben!” Der Nachbar Johannes war derjenige, der meine Pappkartons immer wieder aus der gelben Mülltonne mit der Überschrift „Leichte Verpackungen” rausfischte und mir vor die Tür legte, wie die Katze ihrem Besitzer eine tote Maus bringt.
Mir schien das Benehmen des Nachbarn vollkommen überflüssig, meine Kartons waren für die gelbe Tonne „Leichte Verpackungen” wie geschaffen, sie waren leicht und dienten früher als Verpackung. In der Vorstellung von Johannes waren sie anscheinend nicht leicht genug. Jeden Tag gehen meine Nachbarn zu den Tonnen und kontrollieren den Müll, denn Ordnung muss sein. Wir haben sieben oder acht Mülltonnen auf dem Hof, eine für elektrische Geräte, eine für Biomüll, für mittelschwere Verpackungen, für abgelaufene Medikamente, für Glas in verschiedenen Farben, ich habe längst aufgegeben, sie alle zu verstehen.
Meine Frau steht der Mülltrennung ebenfalls kritisch gegenüber, sie behauptet steif und fest, mehrmals gesehen zu haben, dass der Inhalt aller Tonnen in den gleichen Container der Müllabfuhr gekippt wurde, in dem alles zu einer Masse verschmilzt, weißes und grünes Glas, leichte Verpackungen und schwere Metalle. Meine Frau hat sogar versucht, die anderen Nachbarn (sogar Johannes) wegen ihrer Fixierung auf den Müll zu kritisieren. Es sähe aus, sagte sie, als würde ihr Lebensziel darin bestehen, massenhaft eigenen Müll zu produzieren, ihn sauber zu trennen und daraus neuen Müll zu machen. Sie erntete nur Misstrauen und Kopfschütteln, seitdem schweigt sie lieber.
Wir sollen den Menschen ihre Lebensziele nicht kaputtmachen, wir kommen tatsächlich von einem anderen Planeten, aus einem anderen kulturellen Kontext. In unserem gab es grundsätzlich wenig Müll. Verpackungsmaterial war aus der Sicht der Planwirtschaft vollkommen überflüssig. Die meisten Lebensmittel wurden in der Sowjetunion ohne Verpackung angeboten. Um Milch oder Sonnenblumenöl zu kaufen, ging jeder mit seiner eigenen Ölflasche oder Milchkanne zum Lebensmittelladen. Wurst, Fleisch oder Käse wurden in dickes Fettpapier eingerollt, das ich als Kind gerne ableckte. Man konnte dieses Wurstpapier eigentlich mitessen, es hat zwischen dem Einwickelpapier und dem eingewickelten Produkt keine großen Geschmacksunterschiede gegeben. Für Gourmets wurde in der Planwirtschaft geräucherter Fisch angeboten. Er wurde in der Regel in die Prawda eingewickelt, dem Zentralorgan der Kommunistischen Partei, das für die ideologische Aufklärung der Bevölkerung zuständig war. Es galt als hipp, den Fisch nicht vom Teller, sondern direkt von der Zeitung zu essen, die Zeitung nachher trocknen zu lassen und an die Jungpioniere weiterzugeben, die regelmäßig von Tür zu Tür gingen, um im Auftrag des Staates Altpapier zu sammeln. Der Staat verarbeitete das Altpapier und druckte eine neue Ausgabe der Prawda, um die ideologische Aufklärung und den Fischverkauf aufrechtzuerhalten. Diese sozialistische Nachhaltigkeit führte dazu, dass sogar die frisch gedruckte Prawda bereits penetrant nach Fisch roch.
Das Leergut im Sozialismus war sehr wertvoll, für drei leere Flaschen bekam man eine volle. Und fast alle Flaschen im Sozialismus waren Pfandflaschen – mit Ausnahme von Cognacflaschen. Aber wer würde schon im Sozialismus Cognac trinken? Nur amerikanische Spione und Snobs! Die billigste Marke des moldawischen Cognacs „Der weiße Storch” kostete zwölf Rubel – ein Fünftel der Rente und vier Mal teurer als Wodka. Die Wein- oder Schampusflaschen, von Bier und Limonade ganz zu schweigen, waren alles Pfandflaschen, sie kosteten anders als ihre kapitalistischen Halbschwestern richtig Geld.
So wie hierzulande junge Pfadfinder überall auf der Suche nach dem richtigen Pfad herumlaufen, waren in der Sowjetunion ältere Menschen oft als Pfandfinder unterwegs, in jedem Wald traf man sie und im Sommer an jedem Strand. Aber die Planwirtschaft wäre ihrem Namen nicht gerecht geworden, wenn sie sich nicht auch hierbei eine bescheuerte Regelung hätte einfallen lassen. Das Hauptproblem der Flaschensammler war: Leergut durfte nur ohne Etikett abgegeben werden. Das Papier ging beim Portwein leicht ab, die Folie bei den Sektflaschen aber gar nicht. Ich weiß nicht, mit welchem sowjetischen Klebstoff die Kommunisten diese Folie befestigt haben, wahrscheinlich haben sie den gleichen Stoff benutzt, mit dem sie auch die alten Politbüromitglieder an den Balkon des Mausoleums festklebten. In all den Jahren ist von dort kein einziger runtergefallen, obwohl sie aus eigener Kraft nicht mehr stehen konnten. Wir fluchten also über die Kommunisten, während wir die leeren Sektflaschen mit Sand und Stein abrieben, so entstanden die ersten Dissidenten in meiner Generation.
Die sozialistischen Mülltonnen standen, soweit ich mich erinnern kann, nie vor den Fenstern auf dem Hof. In meiner Kindheit lebte ich in einem der kleineren, nur fünf Stockwerke hohen Häuser. Da gab es einen Mülltonnenplatz für drei Häuser, mit jeweils hundert Haushalten, man musste also ziemlich weit mit dem Mülleimer laufen. Beim noch kleineren Haus meiner Großmutter gab es nicht einmal einen Müllplatz in der Nähe, dafür kam alle drei Tage ein Lkw vorbei, und die Hauseinwohner händigten ihren Müll dem Lkw-Fahrer persönlich aus. Die fortschrittlichen sozialistischen Häuser ab neun Stockwerke waren mit einem Fahrstuhl und einem Müllschlucker im Treppenhaus ausgestattet. Mann musste also mit dem Eimer nicht weit laufen – nur eine Treppe runter beziehungsweise hoch gehen und eine Luke aufmachen. Der Müll fiel runter und landete in einem Kellerraum beim sowjetischen Freddy Krüger.
Dieser Müllschlucker mit dem Kellerraum beschäftigte uns in der Kindheit sehr. Es ersetzte uns den Zoo und den botanischen Garten. Mein bester Schulfreund Nikolaj, der in einem solchen Hochhaus wohnte, hielt den Müllschlucker sogar für den Ursprung allen Lebens. Und tatsächlich spuckte der Müllschlucker je nach Jahreszeit laufend neues Leben aus sich heraus. Im Sommer kamen die Fruchtfliegen und summten fröhlich im Treppenhaus, im Herbst spuckte der Müllschlucker sogar kleine weiße Schmetterlinge, die mein Freund, der sich für Biologie interessierte, mit dem Kescher fing und als „afghanische Motten” identifizierte.
Damals hatte unser Land gerade Soldaten nach Afghanistan geschickt, wahrscheinlich waren einige mit Motten zurückgekommen. Nach den Olympischen Spielen 1980, die nicht von allen Ländern boykottiert wurden, krabbelten exotische Käfer aus dem Müllschlucker. In gewisser Weise konnte man von diesem Müllschlucker mehr über die Außenpolitik unseres Landes erfahren als aus der Prawda, die nach Fisch roch. Im Winter 1981 besuchte der libysche Führer Muammar al- Gaddafi Moskau. Wenig später krochen rote Ameisen aus dem Müllschlucker, sie vermehrten sich in allen Häusern des Bezirks und verwandelten unsere Gegend für kurze Zeit in ein Schlachtfeld. Mein Freund, der Biologe, stellte fest, dass diese roten Ameisen ihre Heimat in der libyschen Wüste hatten, sie waren also auf Gaddafis Schultern zu uns gekommen. Es fanden den Ameisen gewidmete Hausversammlungen statt. Wir werden sie fertigmachen, schrie mein Nachbar, ein großer Patriot, auf der Hausversammlung. Wir Russen haben bis jetzt noch jeden Krieg gewonnen, wir haben gegen Dschingis Khan gewonnen, wir haben gegen die Faschisten gewonnen, wir haben in Vietnam gegen die Amerikaner gewonnen, wir werden auch mit der libyschen Gefahr fertig! Ein Gesandter des Bezirksamtes verteilte ein tödliches Gift. Mit minimalen Kollateralschäden gewannen die Russen gegen die Ameisen.
Wenig später kippte der Sozialismus, man weiß bis heute nicht, woran er scheiterte. An der fehlenden Mülltrennung vielleicht? Unsere Parteifunktionäre, die gerade eben ihr Leben dem Aufbau des Sozialismus geopfert hatten, fingen mit dem gleichen Enthusiasmus an, den wilden Kapitalismus aufzubauen. Und ich muss sagen, die schlimmsten Kapitalisten heute sind die Kommunisten von gestern. Diese Menschen haben keine Zweifel und keine Gewissensbisse, wenn es darum geht, das Land zu vermüllen. Einmal dem kapitalistischen Teufel die Treue geschworen, bleiben sie nie stehen. Im Kommunismus befand sich das Ziel einer Gesellschaft in der Zukunft, es ging immer um morgen, niemals um heute, deswegen wirkten die Menschen auch entspannter. Im Kapitalismus jedoch geht es um heute und jetzt, möglichst viele Bedürfnisse müssen möglichst schnell erschaffen und gleich befriedigt werden, um mit dem gewonnenen Geld neue Bedürfnisse zu wecken und zu befriedigen. Anders als im Sozialismus, wo die Verunstaltung der Welt einen Endpunkt hatte, nämlich den Kommunismus, ist das kapitalistische Modell auf den ewigen Konsum ausgerichtet.
Der Mensch ist aber nicht ewig. Er hat nur sehr wenig Zeit, es wäre schade, sie dem Müll zu widmen. Den Sozialismus hat der Mensch im Großen und Ganzen überlebt, ob er den Kapitalismus überleben wird, wussten vielleicht die roten Ameisen, sie sind aber alle tot.
WLADIMIR KAMINER
Der Artikel ist erschienen in der Ausgabe zeozwei 4/2015. Gerne können Sie den Artikel auf unserer Facebook-Seite diskutieren.