Macht macht Ohnmacht - aus Ohnmacht macht Gegenmacht

■ Unitopia - Utopien an der Humboldt-Uni / Europäischer Studentenkongreß übernimmt kurz die Macht / Studenten wollen keine neuen Gesellschaftskonzeptionen, sondern alternativ leben

Berlin (taz) - Im Vorlesungssaal stinkt es nach frischer Farbe. Zwei Mädchen sprühen auf ein großes Leinentuch an der Tafel den Spruch „Macht macht Ohnmacht - aus Ohnmacht macht Gegenmacht“. „Was nervt uns an dem 'Schweinesystem‘?“, fragt ein ungenannter Anarchist seine Zuhörer. Da er sich eine schwarze Mütze über den Kopf gezogen hat, nuschelt er und ist kaum zu verstehen. Gegenmacht müsse organisiert werden, meint er, zum Beispiel durch solidarisches Leben in einer Gruppe, durch Selbstverwaltung von Betrieben, Selbstversorgung und eigene Informationssysteme. „Leben in einer Gruppe macht Spaß, ist geil, man hat Freunde und kann Feten feiern“, verkündet er. Sein Vortrag steht unter dem Motto „Basisorganisation und Gegenmacht“. An der Humboldt -Universität haben über Pfingsten die „Unitopisten“ die Macht: Unitopia, das sind Utopien an der Universität Unitopia ist ein europäischer Studentenkongreß.

Vom Anarchismus über Sexpeace, Ökodörfer bis zum Okkultismus reicht das Programm. „Wir wollen keine neue Gesellschaftskonzeptionen auf unserem Kongreß entwickeln, sondern zeigen wie man alternativ leben kann. Es geht uns um reale Utopien“, sagt Manuela Schulte. Sie studiert Medizin an der Humboldt-Universität und ist eine der InitiatorInnen von Unitopia. „Die Idee zu diesem Kongreß“, so erzählt sie, „entstand auf einem der vielen deutsch-deutschen Studententreffen im November“. Es bildete sich eine Initiativgruppe von etwa zwanzig Leuten: „Wir fragten uns, ob es nötig sei, Fehler der Geschichte in Ost und West zu wiederholen und wollten daher eigentlich einen Kongreß zur Gesellschaftsanalyse machen“, sagt Manuela Schulte. Doch die Idee eines Kongresses mit dem Schwerpunkt „Dritter Weg“ verwarfen die Organisatoren, als sich die Situation in der DDR zugunsten der D-Mark entwickelte. „Da wir nicht in deutsch-deutschem Saft schmoren wollten, baten wir die großen europäischen Universitäten, sich zu beteiligen“, erklärt Manuela Schulte. Aus Estland, Lettland, und Litauen sind zwanzig Studenten nach Berlin zu Unitopia gekommen und stellen zwei Filme über die nationale Bewegung im Baltikum vor.

Ein Futureworkshop wird von Dänen organisiert. Die meisten Programmangebote sind aber von Westdeutschen. Doch nur wenige Studenten treibt es zu Unitopia in die Universität.

Dabei gibt es für DDR-Studenten ein wirklich interessantes Angebot. Wer hat sich denn schon einmal die Karten lesen lassen? Petra Sommer stellt in ihrem Seminar okkulte Techniken vor: Astrologie und das Lesen der Tarotkarten.

„Für den der es kann, ist das Gedankenlesen und das Voraussagen der Zukunft keine Schwierigkeit“, meint sie und sagt: „Nur würde ich meine Macht, die ich durch dieses Wissen habe, niemals mißbrauchen.“

Zum Okkultismusseminar gehört auch ein wenig Gymnastik: Entspannungs- und Lockerungsübungen. „Stellen sie sich vor, auf der Erde liegt vor ihnen ein riesiger Misthaufen belastender Gefühle und Gedanken. Bücken sie sich, heben sie den Haufen auf und werfen sie ihn weit weg und machen sie bitte dabei laute Geräusche. Uff! Stöhn! Uhh!“ So einfach wird man seine Sorgen los.

Wegen des Okkultismusseminares gab es mit dem Allgemeinen Studentenausschuß (Asta) der Freien Universität Ärger.

„Der Asta warf uns vor, wir seien sexistisch, okkultistisch und unpolitisch“, sagt Manuela Schulte, „es gab für uns kein Geld und auch die Quartiere in West-Berlin wurden uns gestrichen. Daß sich die Linken immer bekriegen müssen, finde ich furchtbar. Dieser Kongreß“, sagt sie bedauernd, „war voriges Jahr nicht möglich und wird nächstes Jahr vielleicht schon nicht mehr möglich sein. Schade.“

Mara Kaemmel