MENSCH UND MIKROBE: ES WIRD SPANNEND, WER WEN UMBRINGT : Winzig, primitiv und fies
Der Sieg über den neuen Feind wurde am 24. Juni verkündet. Die Weltgesundheitsorganisation nahm ihre Warnung vor Reisen nach Peking zurück und blies Entwarnung. Die Menschheit war noch einmal davongekommen. Mehrere Monate hatte das Sars-Virus für weltweite Hysterie gesorgt. Es war die erste globale Epidemie des 21. Jahrhunderts: 812 amtliche Tote, 8.439 Infizierte, Kosten von 30 Milliarden Euro, dazu aufgeschreckte Börsen, eine fast kollabierte Tourismusbranche und zu Tode erschrockene, gesundheitspolitische Thinktanks.
Der moderne Mensch erwies sich im Ernstfall hilflos einem primitiven, mit Erbsubstanz voll gestopften winzigen Zellhaufen ausgeliefert. Wir mussten schaudernd zur Kenntnis nehmen, dass jeder Erreger in kürzester Zeit den gesamten Erdball umrunden kann – noch bevor die ersten Krankheitssymptome sichtbar werden.
Pünktlich zum Jahreswechsel ist Sars wieder da, grinst das Virus höhnisch unter dem Elektronenmikroskop hervor. Haben jene Vulgärapokalyptiker also doch Recht, die den Sieg der Mikrobe über den Menschen prophezeien? Viren sind evolutionär gesehen mindestens genauso erfolgreich wie wir Menschen.
Dabei hat das Virus – und das mag uns nun etwas trösten – eigentlich ein „Interesse“ daran, dass sein Wirt am Leben bleibt, weil es sich dann besser vermehren kann. Das Aids-Virus HIV ist vor allem deshalb so erfolgreich, weil es dem infizierten Menschen genug Zeit lässt, um andere anzustecken. 50 Millionen Infektionen in 20 Jahren hat HIV auf seinem Konto – die größte medizinische Katastrophe seit den Pestzügen. Dagegen war Sars nur ein Fliegenschiss, aber neue Erreger werden kommen.
Das Vordringen des Menschen in entlegenste Gebiete, die Abholzung des Regenwalds, dazu die Massentierhaltung, die Klimaverschiebung und viele andere Umweltveränderungen machen uns anfällig in der neuen Infektionswelt. Zudem verändern sich Viren, sie mutieren und schaffen neue Formen. Manche sehen unter dem Mikroskop wie ein Haufen Spaghetti aus, andere wiederum wie kubistische Gemälde. Und die meisten kennen wir noch gar nicht einmal. Mensch und Mikrobe: Es wird ein ausgesprochen spannendes Kopf-an-Kopf-Rennen, wer wen umbringt.
MANFRED KRIENER