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„Liebe taz...“ Brechmittelvergabe ist ein Kunstfehler

Nachdem sich das Antirassismus-Büro und die Ärztekammer zur Brechmittelvergabe in der taz vom 4. und 5. September geäußert haben, meldet sich heute Hans-Joachim Streicher mit einem offenen Brief an die Präsidentin der Ärztekammer, Dr. Ursula Auerswald, und an Innensenator Ralf H. Borttscheller (CDU) zur Wort. Er ist praktischer Arzt und hat Jugendliche behandelt, denen das umstrittene Brechmittel Iqecachuana eingeflößt wurde.

Sehr geehrte Frau Dr. Auerswald,

erst kürzlich hatte ich wieder in meiner Praxis Brechmittelgeschädigte zu behandeln. In dem besonders gravierenden Fall eines Jugendlichen mit Bluterbrechen und psychischer Traumatisierung, habe ich mich im Juni diesen Jahres beim Innensenator schriftlich beklagt. Derselbe Jugendliche wurde am 30.8. erneut der Prozedur des Zwangserbrechens unterworfen. Diesmal trat über drei Tage blutiges Erbrechen auf, so daß ich eine Gastroskopie veranlaßt habe, deren Ergebnis noch aussteht.

Wenn bei meinem begrenzten Patientenkollektiv bereits mehrfach diese Dinge vorkommen, kann man von einer unbedeutend geringen Komplikationsrate wohl kaum reden. Was immer Sie, die Kollegen im Vorstand der Ärztekammer, bewogen haben sollte, Ihre Meinung zu ändern; folgendes bleibt festzuhalten:

Die Vergabe von Ipecachuana in der Rettungsmedizin (dort auch Kindern verabreicht) geschieht in der Regel unter harter, zum Teil vitaler Indikation und unter intensivmedizinischer Überwachung.

Die Vergabe an junge Menschen OHNE medizinische Indikation stellt meiner Einschätzung nach einen Kunstfehler dar. Man muß nicht Jugendpsychiaater sein, um zu wissen, daß ein derartig gravierender Eingriff in die körperliche Integrität psychisch traumatisiert und den persönlichen Reifungsprozeß nachhaltig stören kann. Bei allem, was Kollege Birkholz zur Verharmlosung seines Tuns vorbringen mag, sollte man nicht vergessen, daß er daraus materiellen Gewinn zieht und somit nicht uneigennützig argumentiert.

Die medizinethische Abwägung sollte meiner Einschätzung nach ganz allgemein für alle betroffenen Personen berücksichtigen, daß hier zwei der höchsten Rechtsgüter, die Würde des Menschen und die Körperliche Unversehrtheit (Art.1 und 2 Grundgesetz) verletzt werden. Ärztliche Aufgabe kann es nicht sein, primär eine wie immer geartete Drogenpolitik durchzusetzen. Unser ausschließliches Ziel muß es bleiben, Kranke zu heilen und Leiden zu lindern, nicht Leiden zuzufügen, auch wenn Staatsorgane dies von uns verlangen.

Ich bitte Sie daher, das Thema bei der nächsten Kammersitzung auf die Tagesordnung zu setzen.

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