LIEBER EINGEBILDET AUSGEHEN ALS AUSGEBILDET EINGEHEN : Märzhasen bei Kater Holzig
VON JURI STERNBURG
Ich hatte es mir alles so einfach vorgestellt. Während der Freitag durch gezielte Besuche von Kulturveranstaltungen dazu genutzt werden sollte, den Horizont zu erweitern und sich seiner Herkunft aus dem Land der Dichter und Denker zu vergewissern, sollte der Samstag eher ein Trash-Tag werden, mit schlechter Musik aus den 90er Jahren und einer als Vengaboys tourenden Gröl- und Hüpfkappelle im Gepäck. Auch das ist ein Bestandteil der Kulturoase Deutschland, der eventuell weitaus repräsentativer als die Theaterlandschaft sein kann. Doch der Reihe nach.
Es ist Freitagabend, im Oberbaumeck am Schlesischen Tor ist es relativ leer, denn ein Spiel von Hertha BSC in einer St.-Pauli-Kneipe zu übertragen, ist eine paradoxe Angelegenheit und wird selten mit Begeisterung quittiert. Beides ist eine durchaus akzeptable Komponente, hier das Spiel der Hauptstädter, dort die immer nach Drehtabak und Astra riechende Eckkneipe, nur zusammen funktioniert das irgendwie nicht. Es hätte auch schlimmer kommen können, schließlich gibt es auch Fälle, in denen zwei überhaupt nicht akzeptable Komponenten verbunden werden. So wird einem zum Beispiel in der Halbzeitpause in einem Werbespot verkündet, dass Elitepartner.de nun mit RTL zusammenarbeitet, um neue Kunden zu gewinnen. Das sind so Fälle, wo gar nichts mehr funktioniert, weder einzeln noch vereint. Aber die Tresenkraft lässt mich ohne jegliche Anfeindungen jubeln (das Spiel endet immerhin 6:1 für die Berliner) und erklärt mir mit etwas Pathos in der Stimme, es gäbe hier „keine Tabus“.
Keine Ahnung, wer das gesagt hat
Der Hinweis auf „keine Tabus“ darf in der gesellschaftlichen Realität als Drohung verstanden werden, denn heutzutage werden nur noch Tabus eingerissen, die einmal als Haltepfosten gegen die Eliminierung gesellschaftlicher Vernunft eingeschlagen wurden. Ich hab keine Ahnung mehr, wer das gesagt hat, es ist auch unwichtig, denn „das Problem bei Zitaten im Internet ist die Tatsache, dass du dir nie sicher sein kannst, ob sie authentisch sind“, wie bereits Abraham Lincoln treffend bemerkte.
Kurz vor Spielende geht es weiter ins Kater Holzig, auch hier ist der Spieldrang enorm. Selbst eine Reifenpanne hindert uns nicht am pünktlichen Erscheinen. In „Missing Alice“, einer neu im Spielplan des Kater Holzig verankerten Performance-Adaption von „Alice im Wunderland“, gibt es Glückskekse für die Gäste, es darf geraucht und getrunken werden, das Licht ist schummrig, die Zuschauer ebenfalls. Ideale Voraussetzungen also für einen Theaterabend ohne angestrengt hüstelndes Abonnentenpublikum, wabernde Parfumschwaden und empört den Saal verlassende Berliner-Ensemble-Intendanten.
Sabrina Strehl verkörpert eine charmant niedliche Agentin Improvisateur, die sich, berauscht von den vorangegangen Nächten im Kater Holzig und der Bar 25, durch das Wunderland fragt. Umrahmt von amüsanten technischen Spielereien und dem ein oder anderen Monthy-Python-Zitat verkörpert sie sämtliche Charaktere, vom Märzhasen bis zur Herzkönigin, und perfektioniert das Prinzip „Lieber eingebildet ausgehen als ausgebildet eingehen“.
Als alles vorbei ist, hat man irgendwie Sehnsucht nach einem Ort, an dem man noch nie gewesen ist. Doch damit kann leider keiner dienen, stattdessen fahren wir ins Milinski in der Kastanienallee, hier wird gelesen, wenn schon Kultur, dann richtig, morgen kann man sich das ja alles wieder von den Vengaboys austreiben lassen. So weit, so gut. Das Problem ist nur, dass ich gar nicht bei den Vengaboys war. Nun sitze ich hier und suche verzweifelt nach etwas unglaublich Dummem, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. RTL hab ich bereits eingeschaltet, vielleicht meld ich mich noch bei Elitepartner.de an.