LESERINNENBRIEFE :
Was haben wir gemeinsam?
■ betr.: „Sie sind doch kein Deutscher“, taz vom 6. 4. 13
Ich habe festgestellt, dass auch von Seiten vieler „neuer“ Deutscher mit russischem Hintergrund eine Distanz zu uns „Eingesessenen“ aufgebaut wird. Russlanddeutsche Eltern, die ihre Kinder abholten, sprechen mit mir deutsch, mit den Kindern russisch. In unserem Wohngebiet treffen sie sich in den kleinen parkähnlichen Anlagen und sprechen russisch; russische Läden eröffnen. Und das ist nicht nur die alte Generation, es betrifft auch die Jüngeren. Und sie bleiben unter sich. Um nicht falsch verstanden zu werden: Russische Freunde zu treffen, russisch zu kochen, zu plaudern und zu feiern meine ich nicht, sondern das alltägliche Leben miteinander.
Bei dem Streben sich hier in der Gesellschaft gut zu positionieren und auch an Status zu gewinnen nehmen die russischen Erwachsenen jede mögliche Arbeit an. Oft unter ihrem erworbenen Schulabschluss in Russland, da er hier meist nicht anerkannt wird. Oder sie studieren nochmal. Das hat zur Folge, dass die Kinder oft auf sich selbst gestellt sind. Und die Kinder und Jugendlichen treffen sich dann wieder mit „Gleichgesinnten“. In unserer Siedlung kommt es leider oft zu Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen in den Jugendklubs, denn „die Russen wollen nicht mit den Türken und die Deutschen wollen nicht mit beiden“. Ich würde mir wünschen, dass wir uns alle fragen: was haben wir gemeinsam und nicht: was trennt uns. SIBYLLA M. NACHBAUER, Erlangen
Keinerlei Heimatgefühle
■ betr.: „Wir Kriegsenkel“, taz vom 6. 4. 13
Auch ich stamme von Russlanddeutschen ab. Meine Großmutter wurde gegen ihr verzweifeltes Flehen, ihr das nicht anzutun, mit einem viel älteren Großbauern zwangsverheiratet. Dieser brachte zwei Söhne in ihrem Alter mit in die Ehe. Als einer von ihnen sich in eine Russin verliebte, wurde er von seinem Vater verstoßen und verschwand aus dem Leben der Familie. Meine Großeltern wurden bereits während des Ersten Weltkriegs enteignet und nach Sibirien verschleppt, meine Mutter wurde später auf der Flucht nach Deutschland in Polen geboren. Mich schaudert, wenn ich an ihre Erzählungen denke, und ich empfinde keinerlei Heimatgefühle, sondern bin froh, dass ich nicht in einer solchen patriarchalen und rassistischen deutschen Kolonie aufwachsen musste.
Ich habe schon öfter mit dem Gedanken gespielt, diese Familienerinnerungen aufzuschreiben. Aber wenn ich vor der Entscheidung stehe, wofür ich meine Lebenszeit einsetze, dann versuche ich lieber, diejenigen, die heute unter Flucht und Vertreibung leiden, zu unterstützen. Denn den Gedanken, dass Menschen gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen, kann ich nur schwer ertragen. Aber ob das mit meiner Familiengeschichte zu tun hat? Vielleicht ist es auch einfach Mitgefühl und die Wahrnehmung von Ungerechtigkeiten.
ELISABETH VOSS, Berlin
Nazis im Grunde ihres Herzens
■ betr.: „Das schönste Dorf am schönsten Fluss der Erde“,taz vom 6.4. 13
Es dürfte doch unverrückbare Tatsache sein, dass die Nazi-Herrschaft vom größten Teil der Bevölkerung getragen wurde. Unter Berücksichtigung der Verfolgungs- und Vernichtungsmaßnahmen der Nazis ist der Anteil von Nazis und zumindest Gesinnungs-Nazis unter der Bevölkerung, die den Krieg überlebt haben, ein noch größerer gewesen. Bestätigt findet sich dies in der Tatsache, dass in der jungen BRD alle Bereiche wie die Wirtschaft, die Bildungseinrichtungen, die Polizei, die Geheimdienste, die junge Bundeswehr, die Regierungen und die regierenden Parteien von Nazis durchsetzt waren. Entsprechende Gesinnung fand sich auch bei dem entsprechenden Anteil der Überlebenden im Umgang mit ihnen vor.
Die Verhältnisse werden daher von der Autorin ins Gegenteil verkehrt, wenn sie meint, dass die Mehrheit der Deutschen nach dem Krieg in eine Normalität geflüchtet sei, die das Grauen und die Verwirrung vergessen machen sollte. Noch schlimmer wird es, wenn die Autorin im weiteren von zerbrochenen Identitäten spricht, die fraglos und klaglos die Trümmer beiseite räumte. In Wahrheit sind bei der Mehrheit der Überlebenden keine Identitäten zerbrochen, trotz aller Trümmer, sondern sie sind Nazis im Grunde ihres Herzens geblieben. HANS-DIETER PLICKERT, Siegen
Ein dickes Tabu
■ betr.: „Wir Kriegsenkel“, taz vom 6. 4. 13
Vielen Dank für diese Erinnerung an die Kriegskinder und ihre Kinder. Es scheint mir, dass ziemlich viele Merkwürdigkeiten, die ich in Deutschland erlebe, vor solchem Hintergrund verständlich werden können. Offenbar liegt in Deutschland noch immer ein dickes Tabu darüber, was Hilbk „Traumaderivat“ nennt: ein Derivat der elterlichen und großelterlichen Traumata, das sich in ihren Verdrängungs- und Verarbeitungsstrategien niedergeschlagen hatte. Wir sind Kinder und Enkel von Tätern UND Opfern. Die Konsequenzen finden wir heute in Deutschland auch bei dem alltäglichen, würdelosen Umgang, inzwischen weitgehend gesetzlich verbrieft, mit allen Abhängigen, wie Arbeitslosen, Angewiesenen auf Sozialhilfe, Asylbewerbern, Kranken, Behinderten, Pflegebedürftigen, Kindern und Alten, und inzwischen muss man wohl die ausgebeuteten Niedriglöhner dazurechnen, die für „selbst schuld“ und für minderwertig erklärt werden bzw. sich dafür halten. Und genauso zu erkennen an den Arbeitsbedingungen von und dem Umgang mit den Menschen, die berufsmäßig mit solchen Abhängigen zu tun haben. JANS BONTE, Kiel