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Archiv-Artikel

LESERINNENBRIEFE

Ich kann vieles verstehen …

■ betr.: „Deutschland, stillgestanden“, taz vom 14. 10. 10

Ein Großteil der Fragen, die in den zum Artikel gehörigen Grafiken aufgeführt sind, taugen nicht dazu, konkrete Einstellungen zu messen. Was bedeutet z. B. „erhebliche Einschränkung der Religionsausübung“? Dass die Befragten auch in Zukunft keine Muezzin-Stimme über Lautsprecher hören möchten (weil sie das vielleicht im Urlaub in der Türkei gestört hat)? Wäre eine Klage gegen zu laute Kirchenglocken dann ein Indiz dafür, dass jemand für eine „erhebliche Einschränkung der Religionsausübung“ von Mitgliedern der großen christlichen Kirchen eintritt?

Fragen, bei denen jemand um Zustimmung zu Aussagen der Form „Ich kann es gut verstehen, dass …“ gebeten wird, messen viel eher, was Menschen über andere Menschen und deren Motive denken als tatsächliche Einstellungen. Ich kann vieles bei anderen verstehen, was ich selbst für falsch halte. Schließlich scheinen diejenigen, die die Fragen formuliert haben, zu glauben, dass Araber = Muslime sind. Aber es gibt auch christliche oder atheistische Araber – und es gibt übrigens auch Araberinnen. UTE FINCKH, Berlin

Bin ich ein Extremist?

■ betr.: „Hassobjekt Muslim“, „Politik mit dem Feind“,taz vom 14. 10. 10

Wann wird aus einem Vorurteil ein Urteil? Wie können rechtsextreme Einstellungen aus der Mitte der Gesellschaft kommen? Wieso profitieren rechtsextreme Parteien nicht davon, dass sich viele inzwischen einen „starken Führer“ wünschen? Warum gibt es eine Feindlichkeit gegenüber Muslimen, aber keine gegenüber nichtmuslimischen Immigranten, wenn es doch nur darum geht, „einen Sündenbock“ zu suchen, wie Martin Kaul vermutet? Und wie kommt der Kommentator zu dem Schluss, die Ursache läge in einem Mangel gesellschaftlicher, auch materieller Teilhabe, obwohl nur drei taz-Seiten weiter grafisch schnell offensichtlich wird, dass zumindest in Westdeutschland der Rechtsextremismus nichts mit der Einkommensgruppe zu tun hat? „Die richtigen politischen Schlüsse ziehen“? Genau das leistet Martin Kauls Kommentar nicht und trägt damit zum Gefühl bei, „keine Stimme im politischen Prozess“ zu haben, denn Artikel, Bild und Kommentar reproduzieren die immer gleichen Muster: hier Immigration von Muslimen als buntes, friedliches Straßenfest, dort die Gesellschaft, die zu ungebildet, nicht teilhabend und frustriert ist, um zu erkennen, welche Bereicherung muslimische Immigranten darstellen. Dass ein deutliches Unbehagen gegenüber Muslimen auch daraus resultieren könnte, dass ein erheblicher Anteil muslimischer Immigranten zentrale Werte mitteleuropäischer Gesellschaften ablehnt, sodass inzwischen auch Vertreter nicht ausgegrenzter Milieus zuspitzen, „Muslime sind nicht integrierbar“ (www.taz.de/1/archiv/archiv/?dig=2002/09/10/a0132), wird einfach ignoriert. Wenn ich dieses Unbehagen teile, weil ich den Eindruck habe, dass mühsam erkämpfte Werte der Aufklärung und der modernen Zivilgesellschaft um des lieben Friedens willen zur Disposition gestellt werden – bin ich dann Extremist?

MARKUS HOLT, Haltern am See

Verantwortung haben wir alle

■ betr.: „Politik mit dem Feind“, taz vom 14. 10. 10

„Reden, reden, reden, überzeugen (…) fruchtet nicht“, folgert Martin Kaul und plädiert stattdessen für stärkere materielle und demokratische Teilhabe. Aber so einfach ist das leider nicht. Wie beispielsweise die Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigen, sind rechtsextreme und menschenfeindliche Einstellungen durch verschiedene Faktoren bedingt, folglich gibt es verschiedene richtige Wege, dagegen anzukämpfen. Die politische Deprivation ist eine Bedingung, andere sind beispielsweise das Erziehungsverhalten der Eltern und die Fähigkeit, die Herausforderungen des Lebens zu meistern. Bei „Stammtischparolen“ spielen Fakten ebenso eine Rolle wie Gefühl und Werte. Sachliche Argumentation kann manchen Vorurteilen zumindest den Wind aus den Segeln nehmen. Gelingt eine Überzeugung nicht, so wird zumindest offengelegt, das es sich offensichtlich nicht um faktenbasierte Einschätzungen handelt, sondern die Ressentiments tiefer liegen. Auch wenn Information nicht alles klärt, so können und dürfen wir nicht darauf verzichten. Auch wenn Reden nicht alles ist, so müssen wir doch immer wieder aufklären und leidenschaftlich für demokratische und menschenfreundliche Werte werben. Verantwortung haben wir alle – und wir sollten uns ihr auf keiner Ebene entziehen. Also: diskutiert, argumentiert, informiert und streitet für mehr wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Teilhabe. JULIA A. JÄGER, Trier