LESERINNENBRIEFE :
Die vergessene Hauptsache
■ Betr.: „Friede, Freude, Geburtstag“, taz bremen v. 1. 11 .11
Leider wird in der derzeitigen Berichterstattung über die Universität Bremen vergessen, dass sie als Lehrerbildungsuniversität gegründet wurde, und dass mit ihren Strukturmerkmalen Interdisziplinarität, Praxisbezug und Orientierung an der Lebenswirklichkeit der Menschen eine Antwort auf die von [Georg] Picht bereits Ende der 60er-Jahre konstatierte „Bildungskatastrophe“ in Deutschland gegeben werden sollte.
Nicht zu vergessen das Lehrerausbildungsgesetz, das von der Gleichwertigkeit der Schulstufen ausging, die Primarstufenlehrer wissenschaftlich qualifizieren und finanziell gleichstellen wollte und Gemeinschaftsschulen ohne Selektion befürwortete, nicht zu vergessen ein interdisziplinäres Projektstudium, das den Zusammenhang von Fach- und Erziehungswissenschaften transparent machen und moderne Unterrichtsmethoden (team teaching, Gruppenarbeit, Selbsttätigkeit) einführen wollte, nicht zu vergessen die Einrichtung eines Studiengangs Deutsch mit dem Schwerpunkt Deutsch als Fremdsprache, der auf die Förderung türkischer Einwandererkinder ausgerichtet war, nicht zu vergessen ein Studiengang Behindertenpädagogik, der schon in den 70er-Jahren Inklusion als notwendige Voraussetzung für angemessene Förderung ansah, nicht zu vergessen ein Studiengang Sport, der Sport als Breitensport verstand und die Bevölkerung im Sinne lebenslangen Lernens einbeziehen wollte, nicht zu vergessen die Nichtabiturientenprüfung, die über Jahre Seiteneinsteigern den Weg zu einer Hochschulausbildung geöffnet hat.
Die Universität war – vor allem was die Lehramtsausbildung anging, nicht als „Rote Kaderschmiede“ gedacht und geplant. Sie war ein Lehr- und Forschungsmodell, dem es um internationalen Anschluss ging. Die Planung orientierte sich dafür an angelsächsischen Einrichtungen, in denen die Demokratisierung viel weiter fortgeschritten war als in Deutschland. Es sollte noch lange dauern, bis in Deutschland verstanden wurde, dass hier in Bezug auf die Realisierung von Chancengleicheit ein erheblicher Nachholbedarf besteht: Entsprechende Fehler z.B. in dem Festhalten an überkommenen Schulstrukturen und in der Einwanderungspolitik werden erst heute – 40 Jahre später – erkannt und zugegeben. PROF. EM. PETRA MILHOFFER, BREMEN