LESERINNENBRIEFE :
Herrschendes Verständnis
■ betr.: „Forschen, um zu wachsen“, taz vom 9. 12. 11
Der Entwurf der EU-Kommission zeigt deutlich das herrschende Verständnis: Was gebraucht wird, sind neue marktfähige technische Produkte und die sie entwickelnden Naturwissenschaftler und Ingenieure. Sozialwissenschaftler dürfen als (Begleit!-)Forschung auch mitmachen, wenn sie sich als Sozialingenieure betätigen und die Akzeptanz dieser neuen Produkte bei avisierten Zielgruppen zu erhöhen versprechen.
Mit einem solchen Forschungsansatz ist die Lösung epochaler „gesellschaftlicher Herausforderungen“ in Bereichen wie Gesundheit, Ernährung, Energie, Klimaschutz von vornherein zum Scheitern verurteilt. Dem Kommissionsentwurf fehlt es aber nicht allein an einem differenzierten Verständnis einer geistes- und sozialwissenschaftlichen Perspektive auf eben jene Schlüsselprobleme unserer Zeit, sondern auch an einem zeitgemäßen Verständnis von transdisziplinärer Forschung, die auf gesellschaftliche Problemlagen bezogen ist und verschiedene Wissenschaftszugänge und gesellschaftliche Akteure im Sinne tragfähiger und nachhaltiger Lösungen zusammenzubringen sucht. Dies ist umso bedauerlicher, als durch dieses Agenda-Setting auch der Rahmen für nationale Forschungsinitiativen perspektivisch eingeengt wird, im Diskurs mit gesellschaftlichen Akteuren an der notwendigen „großen Transformation“ im Sinne eines Umbaus zu postfossilen Produktions- und Konsumsystemen mitzuwirken, wie sie der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung für globale Umweltveränderungen (WBGU) in seinem jüngsten Gutachten gefordert und beschrieben hat.
DANNIEL FISCHER, Lüneburg
Keine kritische Selbstreflexion
■ betr.: „Suche Talente, keine Heiligen“, taz vom 13. 12. 11
ausgerechnet der adelsritter, dem das internet zum fallstrick wurde, soll sich nun unbefangen an die stelle des hehren wächters öffentlichen rechts und der demokratiefreiheit im internet stellen – und sei es „nur“ in beraterfunktion? es ist kein unken zu glauben, dass dies nur schwer funktionieren kann. doch dieser aspekt erscheint nur im augenblick wichtig.
dem rasanten untergang des gar in der breite wirkungsvoll auftretenden grafen von und zu folgte keine debatte über den zustand in der politik und ihres nachwuchses, ebenso vollzog sich keine kritische selbstreflexion der staatlichen institutionen, die dergleichen „mangelware“ noch massig produziert. wir spekulieren auch nicht über die macht einer – vielleicht darf sie so genannt werden: bildungslüge, die uns hier ihr feistes gesicht zeigt. denn es scheint kein interesse an derselben fähigkeit vorliegen zu müssen, sich demokratiewirksamer ämter bedienen zu dürfen, und zwar wenigstens EU-weit; allenfalls genügt ein adelstitel.
wer ist für diese politik verantwortlich? kann das unserer gegenwart und den problemen, mit denen wir uns konfrontiert sehen, gerecht werden? die fragen nach günstigeren und mitgestaltungsfähigen formen von transparenz und politik in hinblick auf die vorgänge in den himmlischen reichen, die wir offensichtlich noch, und zwar dringend benötigen, sind es, die wir uns und anderen stellen müssen. die antwort erscheint derzeit banal und einfach: es ist eine verzichtserklärung des geistes und der demokratie, die sich hier in aller öffentlichkeit vollzieht, und sie wird kulturell getragen.
MICHAEL BOLZ, Berlin