Kriegszustand in Litauen: „Sie schießen auf unser Volk“
■ Im Windschatten des Golfkonfliktes hat die sowjetische Führung zur Lösung ihrer Probleme mit den Unabhängigkeitsbewegungen im Baltikum angesetzt. Mit Panzern und Luftlandetruppen stürmte die Armee in der Nacht zum Sonntag das Radio- und Fernsehzentrum von Vilnius. Dabei fanden 13 Menschen den Tod, es gab über hundert Verletzte. An die 100.000 Demonstranten, die sich zum Schutz des Parlaments eingefunden hatten, wurden ultimativ aufgefordert zu weichen, andernfalls werde geschossen.
Dramatische Szenen spielten sich am Sonntag in Vilnius ab. In der litauischen Hauptstadt wurde scharf geschossen. 13 Tote und über 100 Verletzte sind bisher der Roten Armee zum Opfer gefallen. Mit Panzern und Sturmtruppen hat die sowjetische Führung versucht, die Unabhängigkeitsbewegung in Litauen zu brechen. Das Parlamentsgebäude, in dem sich gestern nachmittag noch die gesamte Regierung und Präsident Landsbergis aufhielten, wurde durch Truppeneinheiten umstellt. Panzer haben am Sonntag nachmittag damit begonnen, vor dem Parlamentsgebäude vorzufahren. Die Armee forderte unmißverständlich die im Parlament versammelten Abgeordneten und Mitglieder der Regierung sowie Präsident Landsbergis dazu auf, bis 15 Uhr das Parlament aufzulösen. Andernfalls werde geschossen. In einem Telefoninterview erklärte Landsbergis: „Das ist ein regelrechter Krieg der Sowjetunion gegen Litauen. Sie können sich das gar nicht vorstellen, sie schießen auf unser Volk. Wir können keinen Widerstand leisten.“
In der Nacht zum Sonntag hatten Rotarmisten schon die Sendezentrale des litauischen Rundfunks in Vilnius gestürmt. Dabei fielen die Schüsse. Tausende von Menschen hatten versucht, die Armee an ihrer Aktion zu hindern. Bis zuletzt übertrug das Fernsehen die Aktion, selbst Bilder von den gewaltsam eindringenden Soldaten wurden noch gezeigt. Das litauische Radio und Fernsehen stellten ihren Sendebetrieb nach Einnahme durch die Soldaten zunächst ein, gingen später aber wieder mit Verlautbarungen der Militärs auf Sendung. Das Militär verhängte eine Ausgangssperre über die Hauptstadt und die zweitgrößte Stadt der Republik, Kaunas. Vilnius wurde einem Militärkommandanten unterstellt.
Präsident Landsbergis berief noch in der Nacht das Parlament zu einer Sondersitzung ein. Tausende von Litauern versammelten sich dann vor dem viergeschossigen Bau, um ihn vor einem Angriff zu schützen. Die Bevölkerung errichtete auch Barrikaden mit Autos, um den Zugang zum Parlament zu erschweren. Das Parlament wählte auf dieser Sondersitzung zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage einen neuen Ministerpräsidenten. Nach einer Meldung der amtlichen Moskauer Nachrichtenagentur 'Tass‘ berief das Parlament den 34jährigen Gedeminas Vagnolius zum Regierungschef. Er löst Albertas Schimenas ab, der erst am Donnerstag zum Nachfolger der zwei Tage zuvor nach Protesten gegen Preiserhöhungen zurückgetretenen Ministerpräsidentin Kazimiera Prunskiene ernannt worden war. Schimenas ist nach Berichten seit Sonntag spurlos verschwunden. Die Parlamentarier beschlossen ferner, daß Außenminister Saudargas eine Exilregierung bilden sollte, falls die Regierung in Vilnius nicht mehr arbeitsfähig sein sollte. Saudargas erklärte sich in Warschau in einem Gespräch mit der Nachrichtenagentur 'ap‘ dazu bereit.
Trotz der Zusage Gorbatschows vom Samstag, es werde keine Gewalt angewendet, ist das Gegenteil eingetreten. Noch um 5 Uhr morgens soll Gorbatschow nach Berichten aus Riga die Truppen in ihre Kasernen zurückbefohlen haben. Ex-Außenminister Schewardnadse erklärte in Georgien, die Aktion in Vilnius sei die erste Stufe eines Militärputsches.
Estland ist auf die gleichen Ereignisse wie in Litauen vorbereitet, erklärte Parlamentschef Arnold Rüütel am Sonntag mittag in einer Fernsehansprache an die estnische Nation. Die Regierung und der Oberste Rat tagten ununterbrochen, um entsprechende Maßnahmen zu treffen. Rüütel versicherte, daß die estnische Führung ihre Politik für die Unabhängigkeit fortsetze. In den nächsten Stunden würden eine ganze Reihe von Maßnahmen zur gegenwärtigen Situation in den baltischen Republiken beschlossen. Der Parlamentschef rief die Nation auf, Ruhe zu bewahren. Der estnische Regierungschef Edgar Savisaar hatte am Samstag abend in Moskau die internationale Presse darüber informiert, daß regierungsfeindliche Aktionen für Montag in Lettland und für Dienstag in Estland erwartet würden. Konservative Kräfte, die selbst schon die Unterstützung der russischsprachigen Bevölkerung verloren hätten, versuchten mit Hilfe der Militärs, das litauische Szenario auch in den beiden anderen Baltenrepubliken anzuwenden. Danach soll der Rücktritt der Regierung und die Auflösung des Parlaments betrieben werden. Nach Savisaars Informationen erwarte der Kommandierende des baltischen Militärbezirks, Generaloberst Fjodor Kusmin, für Sonntag weitere 2.000 Fallschirmjäger in Estland.
Aus Riga, der lettischen Hauptstadt, wurden am Sonntag nachmittag ebenfalls Truppenbewegungen gemeldet. Der lettische Rundfunk befürchtete in einer Sendung, daß wie in Litauen Rundfunk und Fernsehen Ziel der Aktion seien. Das Präsidium des Obersten Sowjets in Riga, das seit Samstag ständig getagt hatte, forderte die sowjetischen Soldaten auf, nicht auf Menschen zu schießen.
In Kaunas, der zweitgrößten Stadt Litauens, sendete eine Rundfunkstation einen Hilferuf an die Welt: „Wir wenden uns an alle, die uns hören: Es ist möglich, uns unter Anwendung von Gewalt physisch zu vernichten oder uns zum Schweigen zu bringen. Aber niemand wird uns zwingen, die Freiheit und Unabhängigkeit zu widerrufen.“ afp/ap/taz
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