Kindeswohl: Vier Jahre danach
Vorm Bremer Landgericht beginnt der Prozess gegen den Vormund des getöteten Kindes Kevin. Die meisten Beteiligten von damals bleiben aber unbehelligt.
Vergessen kann die Stadt nicht: In Bremens Sozialämtern ohnehin, dort hat mit dem Fall Kevin eine neue Zeitrechnung begonnen. Es gibt die Zeit vor dem Tod des zweieinhalbjährigen Jungen - und die danach.
Aber auch in der restlichen Stadt: Bald vier Jahre liegt der Fund der Kinderleiche zurück. Aber noch immer reicht der bloße Name, und man erinnert das komplette Szenario: Dass die Polizei das verwesende Kind im Kühlschrank des drogenabhängigen Ziehvaters aufgefunden hatte. Dass der zuständige Sachbearbeiter seinen Schützling schon Monate nicht mehr gesehen hatte. Dass der Bürgermeister selbst informiert war, dass er der damaligen Sozialsenatorin Sorgen über das Schicksal des Kindes mitgeteilt hatte - und es trotzdem starb, aufs Schwerste misshandelt, mit mindestens 21 Knochenbrüchen, nach einem entsetzlichen Leben.
Ein Tod, der Folgen hat, auch auf Bundesebene: "Wir regeln hier natürlich keine Einzelfälle", sagt ein Sprecher des Bundesjustizministeriums. Aber Kevin, das sei eben "ein Einzelfall gewesen, der die Problematik stark ins Blickfeld gerückt hat."
In Hamburg haben die Todesfälle von Jessica und Lara Diskussionen ausgelöst.
Am 1. März 2005 erstickte im Hamburger Stadtteil Jenfeld die siebenjährige Jessica an Erbrochenem. Das Mädchen wog zu diesem Zeitpunkt noch neuneinhalb Kilo. Jessica war von ihren Eltern in einem dunklen Zimmer gefangen gehalten worden.
Die Mutter von Jessica hatte für ihre drei älteren Kinder das Sorgerecht verloren. Da die Akten aber nur auf den Namen der Kinder geführt wurden, wusste das Jugendamt nicht Bescheid.
Als Jessica 2004 nicht zur Schule erschien, klingelten Mitarbeiter der Schulbehörde an der Wohnungstür. Es machte jedoch nie jemand auf. Der Fall wurde zu den Akten gelegt.
Als Reaktion führte der Senat in Hamburg den Schulzwang ein. Das Jugendamt muss seitdem einschreiten, wenn Kinder nicht zur Schule erscheinen.
Am 11. März 2009 wurde die neun Monate alte Lara tot in der Wohnung ihrer 18-jährigen Mutter in Wilhelmsburg gefunden. Lara war verhungert, obwohl eine vom Jugendamt beauftragte Sozialarbeiterin das Mädchen noch eine Woche vor seinem Tod gesehen hatte.
In der Folge schoben sich Sozialbehörde und das zuständige Jugendamt gegenseitig die Verantwortung zu. Man einigte sich schließlich darauf, dass eine "akute Kindeswohlgefährdung" nicht zu erkennen gewesen sei. Der Prozess gegen die Mutter beginnt am Donnerstag.
Die Problematik heißt hier: Vormundschaftswesen. Das ist wichtig, um den Prozess einordnen zu können, der heute vorm Bremer Landgericht beginnt: Kevins Amtsvormund muss sich wegen fahrlässiger Tötung verantworten. Gesucht wird dort nach Momenten individueller Schuld - die er als Akteur in einem System auf sich geladen haben könnte, das reparaturbedürftig ist: Anfang des Jahres hat Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) einen ersten Entwurf für eine Neuregelung des Vormundschaftsrechts vorgelegt. Dazu hat es Stellungnahmen der Länder gegeben.
Im Sommer sollen die eingearbeitet sein. Danach erst berät das Parlament darüber, ob künftig ein Vormund verpflichtet sein sollte "mit dem Mündel persönlichen Kontakt zu halten", wie es im Entwurf heißt, und er wirklich nicht mehr über 50 Kinder betreuen darf. Kevins Amtsvormund war für 230 zuständig. Das war damals ein durchschnittlicher Wert in Bremen. Einer, bei dem sich die Frage nach persönlichem Kontakt fast erübrigt - und die nach individueller Verantwortung leicht ins Paradoxe spielt. Kein Wunder, dass das Gericht so lange gezögert hat, die Verhandlung anzusetzen: Schon im Dezember 2007 war die Anklageschrift eingegangen. Das Urteil gegen Kevins Ziehvater Bernd K. musste abgewartet werden. Es fiel im Sommer 2008: zehn Jahre wegen Körperverletzung mit Todesfolge. Aber nicht zu eröffnen - das hätte wohl den Volkszorn geweckt. "Es ist ein gewaltiger Druck auf diesem Verfahren", sagt Eckart Behm, der Verteidiger des Vormunds.
Es wird ein zweideutiger Prozess. Natürlich gibt es Hinweise darauf, dass der ehemalige Vormund vor allem "die Interessen des Ziehvaters im Blick hatte", so formuliert es der Untersuchungsausschuss, den die Bürgerschaft kurz nach dem Leichenfund einrichtete. Aber es bleiben so viele unbehelligt. Nein, an die Sozialsenatorin Karin Röpke (SPD) muss man nicht denken: Die war zügig zurückgetreten. Aber den Amtsleiter zum Beispiel, der durch "ein Klima der Angst und Schuldzuweisung" seine Untergebenen zum Sparen zwang, wo es fachlich verkehrt war - den hat man bloß spazieren geschickt, bei vollen Bezügen. Und den Sachbearbeiter, der nur die Akte Kevin verwaltete, haben mehrere ärztliche Gutachten als verhandlungsunfähig eingestuft. Vor allem aber ist das entlastende Moment von Strafverfolgung problematisch: Sie könnte von den Systemfehlern ablenken.
Immerhin, dieses Risiko scheint derzeit klein: Die Sozialbehörde hat das Thema nicht nur oberflächlich angepackt. Man hat 80 neue Jugendhilfe-Stellen geschaffen, hat die Fallzahlen wenigstens der Vormunde drastisch reduziert - von 230 auf derzeit durchschnittlich 90. "Unsere Zielzahl", so eine Sprecherin des Ressorts, "sind 75". Wichtiger noch: Die interne Kommunikation und die mit den freien Trägern ist verbessert worden. So hat im Auftrag der nach Kevin gewählten Sozialsenatorin Ingelore Rosenkötter (SPD) der Berliner Jugendhilfe-Prof Reinhart Wolff Qualitätsstandards entwickelt - gemeinsam mit den MitarbeiterInnen.
"Vor allem spielte eine Rolle", benennt er die Schwachstellen der Hilfe-Struktur, dass "viele Mitarbeiter des Amtes für Soziale Dienste und der freien Träger einander gar nicht kannten." Allein gewesen seien die mit der doppelten Angst, entweder Sparvorgaben zu verletzen - oder eine Katastrophe mit zu verschulden. Wie im Fall Kevin.
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