: Keine Lust mehr auf Gehorsam
In der Endzeit der DDR verweigerten immer mehr Jugendliche den Dienst an der Waffe. Stefan Wolter erinnert an diese Außenseiter
Tausende Rügen-Besucher zieht es jährlich zu dem Koloss von Prora, um Ruinenromantik, „Kraft durch Freude“-Architektur oder Devotionalien der Nationalen Volksarmee der Armee (NVA) der DDR zu bestaunen. Ende der Achtzigerjahre erlebte der neunzehnjährige Pfarrerssohn Stefan Wolter die berüchtigte NVA-Kaserne Prora als unfreiwilligen Einschnitt seiner Jugend. Sein Erfahrungsbericht „Hinterm Horizont allein“ thematisiert eine heute weithin vergessene Randgruppe in der Hierarchie der Nationalen Volksarmee: die Bausoldaten.
Waffenverweigerung in der NVA, so könnte man meinen, scheint in der zumeist populären Rückschau auf die DDR und ihre militärischen Organe kaum ins Gewicht zu fallen. Zu wenig Schneid, zu wenig Tamtam, zu wenig Blitzen und Knallen. Dabei entschieden sich in der Endphase der DDR immer mehr Jugendliche, den Dienst mit der Waffe zu verweigern. Der Grund dafür? Nicht nur das Gewissen, viele hatten einfach keine Lust mehr auf Gehorsam. Unter den „Dreckschippen“, wie die Bausoldaten salopp genannt wurden, kursierten bereits Mitte der Achtzigerjahre Flugblätter gegen Drill in Heer und Staat. Adieu, Vaterland!
Wolter beschreibt sein kaserniertes Dasein anfangs mit fast kindlichem Staunen. Er beschönigt den Kantinenfraß und schwärmt von Sonnenaufgängen über der Prorer Wiek. Doch mehr und mehr dokumentieren seine Briefe an Eltern und Freunde Zweifel und Ratlosigkeit, schließlich Ekel und offener Widerstand gegenüber willkürlichen Offizieren.
Unter der Kompanie der Bausoldaten residiert der militärische Stab der Kaserne. Die Andersdenkenden tun gut daran, dem stets missgelaunten Kompaniechef erst gar nicht unter die Nase zu treten. Kurzfristig gestrichener Urlaub und die Einschränkung religiöser Handlungen gehören zu den täglichen Maßregelungen.
Wie ein Hamster im Rad, so hastet Bausoldat Wolter täglich über das Sandspülfeld der sozialistischen Großbaustelle Mukran, wo er als Kontrolleur einer desolaten Siebanlage eingesetzt ist. Zudem muss er nächtelang ein Telefon bewachen, das überhaupt nicht funktioniert. Wolter fürchtet sich vor einem Blackout. Davor, an der Absurdität dieses Armeealltags zu zerbrechen.
Rückhalt und Geborgenheit findet er schließlich bei seinem Freund Thomas. Zermürbt von Zucht und Ordnung, auch irritiert über die eigenen Gefühle flüchten sich die beiden Männer in die Dünen. Doch am Ende seines traumatischen Prora-Einsatzes muss Wolter feststellen, dass weder die Zuneigung zu seinem Kameraden noch seine mühsam erlernten Überlebensregeln gesellschaftsfähig sind.
Stefan Wolter gelingt es beispielhaft am Nischendasein des Spatensoldaten, die Hoffnungen und Desillusionen eines Jugendlichen während der Endzeitstimmung der DDR zu reflektieren. „Ich gelobe ehrlich, tapfer, diszipliniert und wachsam zu sein …“ – wer je unter den Konsequenzen dieses Treueschwurs zu leiden hatte, dem bietet das Buch Material, seine Erfahrungen neu zu sehen.
Stefan Wolter: „Hinterm Horizont allein. Der Prinz von Prora“. Projekte Verlag, Halle 2005, 350 Seiten, 19,80 Euro