KONTRAHENTEN : Der Schatten
Billardkugeln klicken, donnernd fällt die erste. „Halbe“, ruft einer der Kontrahenten. Der Wirt steht hinter seinem Tresen und begutachtet die Konstellation der Bakelitbälle wie ein Astrologe das Firmament. Dann greift er seinen Queue und tritt nach vorne. Tief beugt er sich über den Tisch, der Blick wie festgeklebt am Ende der Holzstange. Er legt an. Zielt. Schuss. Der Kontrahent sieht alt aus.
Mit einem kalten Luftzug ist ein Schatten hereingeweht. Die schiefe Brille auf schmaler Nase ist angeschlagen wie er, der magere Körper gebeugt unter der Last verschiedener Stoffbeutel. „Ich wollte nicht stören“, flüstert er, verbeugt sich einige Male und läuft zum Tresen, mit Schritten, die sich selber nur um Zehenlänge überholen. Seufzend ordnet er die müden Knochen auf einen Hocker und die Stoffbeutel im Halbkreis drum herum. Der Wirt stellt ihm widerstrebend ein dunkles Hefe hin. „Dreiachtzig“, sagt er. Der Schatten sieht ihn an und lächelt milde. Er hebt den ersten Beutel hoch. Auf dem Tresen liegt jetzt ein Sandkuchen. Der Wirt grunzt und fährt sich mit der Zunge über die falschen Vorderzähne. „Gemach, gemach“, murmelt der Schatten und kramt weiter. Zwei Bücher, eine Gurke, ein Netz Kartoffeln kommen zum Vorschein. „Du kannst deine Vorräte stecken lassen“, motzt der Wirt, „ich will keine Kartoffeln, ich will Geld.“ Seine Augenbrauen bilden eine bedrohliche Kante. „Die Löcher rufen“, nörgelt der Kontrahent. Auf dem Tresen jetzt noch eine Milchtüte, ein Paar lange Unterhosen und ein Kartenspiel. Der Wirt steht da wie festgewachsen. „Ich gehe nicht von diesem Tresen weg, ehe da nicht dreiachtzig liegen“, sagt er. Der Schatten kichert und wiegt sich auf dem Hocker leise vor und zurück.
Plötzlich eine Bewegung. Der Kontrahent ist zum Tresen gelaufen und hat einen Fünf-Euro-Schein draufgeknallt. „So“, sagt er, „können wir jetzt?“ Der Schatten lächelt. LEA STREISAND