KOMMENTAR HAUSAUFGABEN : Coaching-Wahn
Es ist eine der Merkwürdigkeiten des SPD-Wahlkampfs, dass der Parteichef Sigmar Gabriel andauernd dem Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück die Schau stiehlt – manchmal sogar mit guten Vorschlägen. Nun übertrumpfte Gabriels Forderung, die Hausaufgaben abzuschaffen, zwar medial nicht das TV-Duell. Doch bedarf seine Idee tatsächlich einer Erörterung.
Die Ära der Halbtagsschule geht selbst in Deutschland zu Ende. Die Zeit, da die Kinder mittags daheim von Mama eine warme Mahlzeit bekamen, dann in die unendliche Weite des Nachmittags fielen, um irgendwann auch die Hausaufgaben zu erledigen, ist so gut wie vorüber. Der Ganztagsschule gehört die Zukunft. Nur aktuell befindet sich die Republik – föderalismusgelähmt – noch in einem Übergangszustand.
Der aber ist davon geprägt, dass Eltern familienpolitisch kompensieren müssen, was dieser Übergang an Abrieb produziert. Einer der Irrwitze dabei ist, dass der Arbeitsmarkt bald nach jedem einzelnen Kind verlangen wird – die Eltern sich aber trotzdem so verhalten, als müsste jede Achtjährige zur Vorstandsvorsitzenden aufgebaut werden, damit sie wenigstens Verkäuferin wird. Die Hausaufgaben spielen dabei eine wichtige Rolle.
Denn hier merken Eltern, was die Schule verlangt und was noch an Fördervolumen vorhanden ist. Ist das Kind noch nicht vollständig durchgefördert, geben Mütter inzwischen landauf, landab Vollzeitstellen zugunsten karriere- und rentenkillender Teilzeitstellen auf, um nachzufördern. Dabei geht es nicht nur darum, ob Multiplikation und Rechtschreibung klappen. Nein – das Kind muss seelisch aufgebaut, ausreichend motiviert und stark gemacht werden. Wir reden nicht von Lernen, wir reden von Coaching.
Darin steckt auch die Ironie in Gabriels Argument: Weil die Akademikerkinder mit ihren gebildeten Eltern im Vorteil sind, müssten Hausaufgaben abgeschafft werden, sagt er. Wahr ist aber auch, dass niemand sich verrückter macht als die akademischen Eltern, meistens die Mütter. Dies ist eine ganz kleine tiefere Gerechtigkeit in der schreienden Ungerechtigkeit des deutschen Bildungssystems. ULRIKE WINKELMANN
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