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Archiv-Artikel

KARIM EL-GAWHARY ÜBER ÄGYPTEN NACH DEN WAHLEN Chance am Nil

Die Sieger sind in keiner komfortablen Lage: Sie wurden von weniger als 50 % der Ägypter gewählt

Eine Karikatur veranschaulicht die Wahlmöglichkeiten der Ägypter: Eine ratlose Kuh steht vor zwei Gängen, die am Ende beide zum Schlachthaus führen. Die Ägypter haben in der Stichwahl um das Amt des Präsidenten die Option zwischen Ahmed Schafik, einem Restposten Mubaraks, und dem Muslimbruder Mohammed Mursi.

Doch die Wahl zwischen Pest und Cholera könnte sich noch als Chance erweisen. Denn die Wahlsieger sind in einer wenig komfortablen Lage. Sie wurden von weniger als der Hälfte der Ägypter gewählt. Der größere Teil hatte für Kandidaten des Wandels gestimmt, allen voran den säkularen Nasseristen Hamdin Sabahi und den liberalen Aussteiger aus der Muslimbruderschaft, Abdel Monem Abul Futuh. Die Gewinner Schafik und Mursi müssen nun deren Anhänger für sich gewinnen.

Schafik hat dabei wenige Optionen. Er kann die PR-Maschine der alten Seilschaften aus dem Sicherheitsapparat anwerfen und so versuchen, sein Image als Mubarak-Mann abzustreifen: ein Widerspruch in sich, auch wenn sein Credo: „Ich werde die Zeit nicht zurückdrehen“ laut bis in die letzten Gassen des Landes zu vernehmen ist. Schafik klingt wenig glaubwürdig. Dass Montagnacht sein Wahlkampfbüro in Flammen aufging, könnte nur ein Vorgeschmack sein. Der offene Bewunderer Mubaraks ist zur Wahl angetreten mit dem Versprechen, einmal im Amt, „mit brutaler Gewalt“ wieder Ordnung und Stabilität herzustellen. Da ist es schon eine Ironie, dass allein sein Wahlsieg und Durchmarsch in die Stichwahl um das Präsidentenamt genau für das Gegenteil sorgt.

Aber auch die anderen Wahlsieger, die Muslimbrüder, haben ein ernstes Problem. Hatten sie bei den Parlamentswahlen im Winter noch die Hälfte der ägyptischen Stimmen erhalten, konnte ihr Kandidat Mursi nun nicht einmal ein Viertel der Stimmen hinter sich vereinen.

Die Muslimbrüder haben jetzt zwei Optionen. Sie können versuchen – auch mit Hilfe der radikalislamischen Salafisten – ihren Kandidaten durchzubringen und den konservativen Kurs weiterzufahren. Doch als politische Kraft, die sowohl Parlament als auch Präsidentschaft kontrollierte, übernähmen die Muslimbrüder die volle politische Verantwortung für ein Land, dessen Berg an Problemen sie nie alleine lösen könnten. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die Muslimbrüder spätestens bei den nächsten Wahlen mit wehenden Fahnen untergehen würden.

Anstatt also ein politisches Monopol an sich zu reißen, bei dem sie am Ende nicht gewinnen können, werden die Muslimbrüder wohl ihre Hände den anderen politischen Kräften entgegenstrecken, um ein Bündnis gegen die Rückkehr des alten Systems zu schmieden. Die Einladungen zu Gesprächen wurden bereits ausgesprochen, wenngleich die anderen Kräfte vor der gestrigen Verkündigung der endgültigen Wahlergebnisse und aufgrund ihres Misstrauens gegenüber den Muslimbrüdern noch gezögert haben. Aber die Diskussionen sind allerorten am Nil in vollem Gange.

Möglich wäre, eine Regierung der nationalen Einheit zusammenzuzimmern, die im Falle von Mursis Wahlsieg berufen wird und die als Vizepräsidenten oder Ministerpräsidenten auch den jetzigen Wahlverlierern Sabahi und Mursi Platz bietet sowie christliche Kopten an prominente Stelle setzt. Möglich wäre auch, dass die Muslimbrüder die zukünftige Verfassung des Landes nicht als politisch-islamisches Projekt ansehen und stattdessen garantieren, diese im Konsens mit Liberalen, Nasseristen und Linken zu schreiben.

Alle Seiten müssten dafür über ihren eigenen Schatten springen. Um ihre demokratische Legitimität zu behalten, müssten die Muslimbrüder ihre konservativen Islamvorstellungen auflockern, und Liberale und Linke müssten zur Kenntnis nehmen, dass sie Ägypten nicht über Nacht in ein säkulares Land verwandeln können. Und alle Seiten hätten die Verpflichtung, sich des Themas anzunehmen, das der Mehrheit der Ägypter auf den Nägeln brennt: der sozialen Frage.

Solch politische Reife bei allen vorausgesetzt, stehen die Chancen nicht schlecht, dass es gegen die polarisierende Figur aus den alten Zeiten, Schafik, zu einem Schulterschluss des neuen Ägypten kommt. Das wäre der Impfstoff, mit dem sich Pest und Cholera verhindern ließen.