KARIKATURISTIN. 25. AUGUST 1922 – 7. DEZEMBER 2014 : Marie Marcks
VON HANS TRAXLER
Wenn ich an sie denke, fällt mir zuerst ihr Gesicht ein. Je älter sie wurde, desto mehr ähnelte sie ihrem berühmten Bildhaueronkel Gerhard. Die hellblauen Augen unter dem Cäsarenschnitt. Die weißen Haare, die wie eine Haube von Schwanenfedern ihren Kopf bedeckten.
Gehen konnte sie schon lange nicht mehr richtig. Deshalb standen zwei Rollatoren in ihrem Haus in Handschuhsheim in Heidelberg – einer im Erdgeschoss, einer im Obergeschoss, wo ihr Arbeitstisch war. Mit preußischer Zähigkeit und ohne fremde Hilfe war sie damit in der Gegend unterwegs. Mich erinnerte sie an den Alten Fritz, unter dem in der Schlacht bei Kunersdorf ein Pferd nach dem andern weggeschossen wurde und der trotzdem immer weitermachte, dauernd an der vordersten Front. Da stand Marie schon lange, bevor ich sie in der Redaktion der Titanic kennenlernte.
Mit ihren Cartoons in der Süddeutschen Zeitung kritisierte sie all die alten und neuen Nazis, vor allem die Nazirichter, die Nachrüstung, den Atomstaat, die Umweltverseuchung, den Machismus und noch vieles mehr.
Marie stammte aus einer Familie, in der sie alle zeichneten. Ihr Vater, der als junger Archäologe die Nofretete mitausgegraben hatte. Ihre Mutter, die so schön war, als hätte Gustav Klimt persönlich sie gemalt: diese Frau kannte alle, die in Berlin vor dem Ersten Weltkrieg zählten, Walter Gropius, Bruno Paul, Emil Orlik. Sie führte eine private Zeichenschule, war eine exzellente Schriftkünstlerin. Ihre Buchtitel für den Fischer Verlag mit handgezeichneten Schriften – unerreicht! Von ihr hatte Marie die unverkennbare Handschrift, mit der sie auch Karten, Briefe und kleine persönliche Botschaften schrieb. Eine Schrift, die jeden schlichten Zeitungscartoon auflud und ihn adelte.
Mich bezauberte Marie vor allem durch ihre kleinen, privaten Bildergeschichten, die in den siebziger Jahren erschienen. Der tägliche Kleinkrieg mit ihren fünf Kindern, allesamt in der Pubertät, dazu noch die Schneckeninvasion im Garten! Beeindruckend, wie sie aus diesen Kämpfen komische Kunst filterte.
Zum letzten Mal haben wir uns im Mai dieses Jahres gesehen. Zu meinem 85. Geburtstag veranstaltete ich eine Dampferfahrt über den Main, hatte die „J. W. Goethe“ gechartert und alle von mir geschätzten Zeichnerinnen und Zeichner eingeladen. Da saß Marie mitten in Jubel und Trubel, während wir an diesem herrlichen Maitag an der Frankfurter Skyline entlangschipperten. Still hockte sie in ihrem Rollstuhl, beteiligte sich nicht an der Unterhaltung. Ihr Blick schien nach innen gerichtet, und ich ahnte, dass sie auf dem Weg nach woanders war. Dort ist sie jetzt angekommen.
Adieu, Marie, und danke für alles.
Jetzt werde ich an das Bücherregal gehen und mir noch einmal „Marie, es brennt!“ vornehmen. Das sollten Sie auch tun. Wenn Sie das Buch nicht haben, kaufen Sie sich es bitte schleunigst. Das ist die beste Art, einer großen Künstlerin zu gedenken.
■ Hans Traxler, 85, ist Maler und Cartoonist. Er war Mitgründer des Satiremagazins Titanic