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Archiv-Artikel

KANZLERIN IN DER TÜRKEI: DER ZYPERN-KONFLIKT IST DAS FALSCHE THEMA Merkel ist derzeit nicht sehr wichtig

Wenn Angela Merkel heute Mittag in der Türkei landet, trifft sie auf ein tief gespaltenes Land. Der jahrelang schwelende Konflikt zwischen dem islamisch geprägten Teil der Bevölkerung mit Ministerpräsident Tayyip Erdogan an der Spitze und andererseits dem weltlich orientierten Teil der Bevölkerung, die sich auf Staatsgründer Kemal Atatürk beruft, ist seit dem Frühjahr dieses Jahres offen ausgebrochen. Nach der Ermordung des obersten Verwaltungsrichters durch einen islamistischen Attentäter trug der harte Kern der kemalistischen Elite erstmals seit dem Amtsantritt der Regierung vor vier Jahren ihren Protest auf die Straße. Seit im August der Posten des Generalstabschefs wechselte und mit Yasar Büyükanit ein kemalistischer Hardliner an die Spitze der Armee gelangte, hat diese klassische Elite der türkischen Republik auch wieder einen allseits gefürchteten Sprecher, der bereits nach einem Monat zum eigentlichen Gegenspieler Erdogans avancierte.

Im Brennpunkt steht die Präsidentschaftswahl im April nächsten Jahres. Das Militär wird alles unterhalb der Schwelle eines offenen Putsches tun, um zu verhindern, dass nach dem Amt des Ministerpräsidenten auch noch der Job des Staatspräsidenten an die Religiösen fällt. Für einen Kemalisten ist es einfach unvorstellbar, dass ein Feind des Laizismus und seine Kopftuch tragende Ehefrau als First Lady ins Präsidentenpalais ziehen. Diesem innenpolitischen Konflikt ist zurzeit alles andere untergeordnet, auch die Beziehungen zur EU.

Weder Erdogan noch Büyükanit denken derzeit, dass die Türkei in absehbarer Zeit EU-Mitglied wird, und konzentrieren sich auf den internen Machtkampf. Deswegen droht die EU ihre den Konflikt dämpfende Wirkung völlig zu verlieren – zumal Merkel nichts signalisieren will, was die EU-Perspektive der Türkei bestärkt. Wenn sie will, dass der Gesprächsfaden nicht reißt, sollte sie innerhalb der EU darauf hinwirken, dass eine Entscheidung über den leidigen Zypernstreit, der vor allem gegen die Militärs geht und die Religiösen stärkt, auf einen Zeitpunkt nach den Präsidentschaftswahlen verschoben wird. JÜRGEN GOTTSCHLICH