Juristische Pädagogik

Die Generalstaatsanwaltschaft Bremen lehnt es ab, den Fall eines behinderten Schülers anzuklagen, der regelmäßig in ein altes Klo verfrachtet wurde. In der Schule sei es nötig, Kinder „einzusperren“

aus Bremen Jan Zier

In den nächsten Tagen wird der Junge neun Jahre alt. Noch immer „kann er keinen Meter alleine gehen“, sagt seine Mutter. „Noch immer ist er voll von Ängsten.“ Für sie gibt es dafür eine klare Erklärung, ebenso für seine Psychotherapeutin. Schließlich verfrachteten seine Lehrerinnen in der Grundschule Rönnebeck den schwer behinderten Jungen regelmäßig in eine ausrangierte Toilette, weil er den Unterricht störte. Das ist mehr als zwei Jahre her. Nun hat die Generalstaatsanwaltschaft entschieden, es sei „völlig abwegig“, anzunehmen, das Kind sei „roh misshandelt“ worden.

Damit wies Oberstaatsanwalt Mathias Glasbrenner die Beschwerde der Mutter gegen eine ähnliche Entscheidung der Staatsanwaltschaft als „unbegründet“ zurück. Glasbrenner kann im Verhalten der drei beschuldigten Pädagoginnen weder eine Misshandlung Schutzbefohlener erkennen, noch eine Nötigung. Im Gegenteil: In der Schule sei es in jedem Fall nötig, Kinder „einzusperren“, jedenfalls in einen Klassenraum. Von Freiheitsberaubung könne bei dem Kind also keine Rede sein, so Glasbrenner. Schließlich sei er „immer nur für einige Minuten“ in einen anderen Raum verbracht und dort auch beaufsichtigt worden.

Mehrmals täglich, das räumten die Pädagoginnen ein, brachten sie den damals Sechsjährigen in das als Ruheraum deklarierte ausrangierte Klo. Über sechs Wochen sei das so gegangen, sagt die Mutter – ohne dass die Eltern davon erfahren hätten. Eine Nötigung, entschied die Staatsanwaltschaft – aber keine rechtswidrige. „Sie haben ihn mit Gewalt über den Flur gezerrt“, sagt die Mutter. „Das Kind wurde durch Ziehen am Arm aus dem Klassenraum entfernt“, sagt die Generalstaatswaltschaft.

Zuvor sollen Bauklötze geflogen sein, auch Scheren. MitschülerInnen wurden geschlagen, ihre Sachen zerstört. Der Junge gilt als verhaltensauffällig, als aggressiv, leidet unter schweren Sprachstörungen, ist in seiner Entwicklung zurückgeblieben. Seine Klasse war eine Integrationsklasse: vier Förderkinder, eine Sozialpädagogin.

Eine Psychotherapeutin attestierte ihm im vergangenen Jahr eine „erhebliche Panikstörung“, eine „posttraumatische Belastungsstörung“, eine „tiefgehende Verzweiflung“. Und die führt sie eindeutig auf jene Ereignisse in der Schule zurück. Bremens Schulbehörde verweist auf „unglückliche Umstände“, widerspricht aber der Vorstellung, der Schüler sei „eingesperrt“ worden.

Auch der Oberstaatsanwalt kann nichts „verwerfliches“ feststellen, jedenfalls nicht im juristischen Sinne. Das ist nur, was „sozial unerträglich“, „grob anstößig“ und „sozialethisch in besonders hohen Maße zu missbilligen ist“. Allenfalls eine Körperverletzung käme in Frage, sagt Glasbrenner, doch fehle es dafür an einem Nachweis „einer ganz konkreten Handlung, die völlig aus dem Rahmen des Üblichen fallen würde“. Und der sei schwer zu erbringen, erst recht aus „derart großem zeitlichem Abstand“. Gut zwei Jahre lag die Akte bei der Staatsanwaltschaft.

Rechtsanwalt Philip Koch findet Glasbrenners Worte „extrem verharmlosend“ und „erschreckend“ in Inhalt wie Wortwahl. Die Mutter ist nach eigenen Angaben „total schockiert“, was „scheinbar als pädagogisch“ angesehen werde. Ihr bleibt, als letzte Instanz das Hanseatische Oberlandesgericht Bremen anzurufen und eine Entscheidung zu verlangen.

Der Junge geht mittlerweile auf eine Förderschule. Doch die Hoffnung, dass sich seine Ängste „mit der Zeit verlaufen“, habe sie aufgeben müssen, sagt seine Mutter. Einst ein „fröhlicher Junge“, sei er nun ein „psychisches Wrack“. Und das, sagt sie, „ist keine Übertreibung“.