: Jelzin will ein weiteres Jahr im Amt bleiben
Moskau (ap/afp) - Der russische Präsident Boris Jelzin hat gestern auf dem Kongreß der Volksdeputierten einen Gesetzesvorschlag über die Wahl des künftigen Regierungschefs unterbreitet. Darin reklamiert Jelzin das Recht, ein weiteres Jahr Regierungschef und Präsident in Personalunion zu bleiben, falls der Oberste Sowjet seinen Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten ablehnt. Der Oberste Sowjet ist das russische Arbeitsparlament, das sich aus 250 gewählten Volksdeputierten zusammensetzt. Jelzin hatte sich auf Druck des Kongresses verpflichtet, seine Wahl in den kommenden drei Monaten bekanntzugeben. Die Deputierten wollten den Bericht sofort beraten. Jelzin selbst wollte in einer Rede am Dienstag Einzelheiten der geplanten Kabinettsumbildung bekanntgeben. Vermutlich soll der Stab von Radikalreformern erweitert werden und Waldimir Schumeiko, bisher stellvertretender Sprecher der Volksdeputierten, zum ersten stellvertretenden Ministerpräsidenten berufen werden. Schumeiko bezeichnete einen Rücktritt Jelzins von seinem zweiten Amt als Ministerpräsident als unwahrscheinlich, solange sich die Situation Land nicht bessere. Am Vortag hatten die Volksdeputierten in der Kraftprobe mit Präsident Boris Jelzin einen überraschenden Rückzieher gemacht. Mit 548 gegen 158 Stimmen nahmen sie am Montag abend eine Resolution an, in der die Mitgliedschaft Rußlands in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) formell anerkannt wird. Noch am vergangenen Freitag hatte der Kongreß es abgelehnt, den Zusammenbruch der früheren Sowjetunion formell anzuerkennen, an deren Stelle die GUS getreten ist. Am Samstag hatten die Deputierten dagegen einen Entwurf für die neue Verfassung angenommen, die die Befugnisse des Präsidenten erheblich einschränkt. Danach müßte der Präsident alle Minister und auch einen künftigen Regierungschef vom Obersten Sowjet bestätigen lassen. Das Parlament könnte danach auch über den Haushalt, die Steuern und das Banksystem entscheiden und ein Veto des Präsidenten gegen Sondergesetze überstimmen. Jelzins führender Rechtsberater Sergej Schachrai hat im Gegenzug eine neue Verfassung vorgeschlagen, die den Volkskongreß auflösen und an dessen Stelle ein Zweikammerparlament setzen soll. Im Gespräch mit Vertretern der verschiedenen Parlamentsfraktionen sagte Jelzin am Montag nach Mitteilung des Abgeordneten Stanislaw Schustow, er sei nicht dafür, die Vorschläge Schachrais und anderer Reformer zum Gegenstand einer Volksabstimmung zu machen.
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