Jean Bollack, Philosoph und Philologe : Der Meister des Entzifferns
JEAN BOLLACK, * 1923 in Straßburg, gründete das Forschungszentrum für Hermeneutik in Lille. FOTO: OLIVIER ROLLER
Der freundliche ältere Herr, der gestern mit der Ehrendoktorwürde der Universität Osnabrück ausgezeichnet wurde, gilt in Fachkreisen als Koryphäe. Jahrzehntelang hat der Philologe und Philosoph Jean Bollack wegweisende Beiträge zur Erforschung der griechischen Antike, aber auch zur Interpretation deutschsprachiger Gegenwartsliteratur geleistet und ist dabei keinem Konflikt aus dem Weg gegangen.
Denn wenn Bollack sich aufmacht, die komplexen Gedichte seines langjährigen Freundes Paul Celan zu deuten, müssen sich namhafte Forscher schon mal den Vorwurf der Oberflächlichkeit gefallen lassen. Das gilt vor allem, wenn sie vor der Schwierigkeit der Texte kapitulieren und sich in allgemeine Erwägungen und Spekulationen flüchten: „Die Gedichte wurden geschrieben, damit sie entziffert werden. Sonst wäre es auch gar nicht möglich, sie zu entziffern. Es gelingt aber“, sagt Bollack.
Er selbst stellt sich dieser Aufgabe mit Hilfe der „kritischen Hermeneutik“, die einerseits exakt die historischen und biografischen Voraussetzungen von Literatur klären, andererseits aber auch versuchen will, die Texte aus sich selbst heraus zu deuten. Der Philologe sieht sich mit der Herausforderung konfrontiert, der künstlerischen Freiheit der Autoren die eigene Freiheit zur Einordnung entgegenzusetzen. Dichtung und Interpretation entwickeln sich so im Rahmen einer „offenen Kontinuität“.
Jean Bollack wurde 1923 in Straßburg geboren. Er studierte zunächst in Basel Philologie und ließ sich nach dem Kriegsende in Paris nieder, wo er heute noch lebt. Zu seinen bedeutendsten Werken zählen die Neuübersetzung und Kommentierung von Sophokles’ Drama „König Ödipus“ sowie die vielbeachtete Monografie „Poetik der Fremdheit“, mit welcher er Paul Celan 1999 ein Denkmal setzte.
Der Osnabrücker Literaturwissenschaftler Christoph König arbeitet seit Jahren mit Bollack zusammen und leitet ein internationales Kolleg für Nachwuchswissenschaftler. Dort ist Bollack am kommenden Wochenende zu Gast, um sein Wissen und seine Erfahrung weiterzugeben.
Thorsten Stegemann