JÜRGEN GOTTSCHLICH ZUM ISTANBULER TREFFEN UND DER LAGE IN SYRIEN : Der syrische Teufelskreis
Mindestens 70.000 Tote bislang, und jeden Tag kommen mindestens 100 Tote dazu. Ein in weiten Teilen zerstörtes Land, Millionen von Flüchtlingen, und ein Ende des Grauens ist nicht abzusehen. Da muss man doch etwas tun, oder? Am Wochenende trafen sich in Istanbul mal wieder die Vertreter des Westens mit der syrischen Opposition, um darüber zu beraten, wie die Anti-Assad-Front unterstützt und der Konflikt beendet werden kann.
Herausgekommen ist so gut wie nichts, doch unterhalb der Oberfläche zeichnet sich ein Paradigmenwechsel ab. Ging es dem Westen bislang darum, aus der zerstrittenen Opposition ein politikfähiges Bündnis zu schmieden, sind die USA inzwischen höchst besorgt, dass am Ende eines jahrelangen Blutbades eine an al-Qaida orientierte Fundamentalistentruppe die Macht übernehmen könnte.
Denn was Assad immer behauptet hat, ist schon Realität geworden: quasi als herbeigebombte, sich selbst erfüllende Prophezeiung gibt es mittlerweile mit al-Nusra eine immer stärker werdende Fundamentalistentruppe, vor der vor allem Amerikas Verbündeter Israel völlig zu Recht wesentlich mehr Angst hat als vor dem Assad-Regime. Der Westen versucht jetzt, die Opposition in die „Guten“ und die „bösen Fundamentalisten“ zu trennen und nur die Guten zu unterstützen. Da man, allen Versprechungen zum Trotz, jetzt schon weiß, dass die Wirklichkeit in Syrien anders aussehen wird, wird sich der Westen auch weiterhin zurückhalten.
Die bösartige Pointe ist, dass der Westen am Ende tatsächlich militärisch eingreifen könnte. Aber nicht, um Demokratie und Menschenrechten durchzusetzen, sondern um eine mit al-Qaida verbündete Fundamentalistengruppe daran zu hindern, sich das Arsenal des zusammenbrechenden Regimes anzueignen.
Reportage SEITE 5