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Archiv-Artikel

JOSEF WINKLER ÜBER WORTKLAUBEREIMUSS MAN ALLES AUSSPRECHEN, WAS MAN DENKT? UND TRÄUMEN NAZIS VON EINER STRAFFEN JUSTIZ? Unausgeglichenheit an einem Frühlingstag

DIE FÜNFTAGEVORSCHAU | KOLUMNE@TAZ.DE

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Es ist der verhältnismäßig frühe Morgen nach einer verhältnismäßig kurzen Nacht (der Zweitgeborene sah sich veranlasst, die tieferen Stunden mit etwas Geplärr aufzupeppen), ich schicke mich an, die Ältere in die Krippe zu tragen. Wenn ich vom Gewirr in meinem Kopf, in dem Schlafmangel, eine heraufziehende Nebenhöhlengeschichte sowie bis zu 99 problems ineinandersumpfen, auf mein äußeres Erscheinungsbild schließe, kann ich mir nicht vorstellen, dass ich aussehe, als müsste ich gerade dringend angequatscht werden, geschweige denn auf schwache Art.

Trotzdem fasst sich ein just in diesem Moment an der Haustür vorbeischlurfender Mann, Typ alkoholkranker Hippie-Artist mit scheint’s Selbstgemaltem unterm Arm, ein Herz. Er hält inne, dreht sich um und glotzt mich und meine Tochter an. „Sag mal“, sagt er in einem Ton, als würde er sich darüber jetzt gern mal in aller Ruhe mit genau mir unterhalten, „mir ist aufgefallen, dass in Haidhausen so wahnsinnig viele Babys und Kinderwägen unterwegs sind.“ Ach. Ist dir das aufgefallen? „Ich mein“, führt er seinen Gedankengang ungebeten fort, „gibt’s hier unendlich viele Kindergärten, oder wie?“ – „Ja, haargenau. In Haidhausen gibt’s unendlich viele Kindergärten. Und dich können sie da demnächst als Stofftier reinsetzen, wenn du noch ein paar Millisekunden lang so eine Scheiße laberst“, antworte ich ihm leider nicht.

Später erzählt die S. von der Schwangerschaftsrückbildungsgymnastik. Eine Kurskollegin habe sie auf unseren Buben angesprochen, der ja so „riesig“ sei, und „gar nicht wie ein Baby“ aussehe. Das müsse doch „gruselig“ sein, wenn so ein riesiges Kind „aus einem rauskommt“. Ich darf dazu bemerken, dass unser Knabe zweieinhalb Monate alt ist und knapp über fünf Kilo wiegt, und ich weiß ja nicht, ob die anderen Damen in dem Kurs da, passend zum Chihuahua auf dem anderen Arm, mit anorexischen Frühchen einlaufen. Es ist jedenfalls erstaunlich, was manche Leute meinen, wildfremden Menschen an Ansichten und „Gedanken“ aufdrücken zu müssen, die ihnen gerade durch ihren Schädel flattern. Man steckt nicht drin. Meine Frage wäre, ob die Frau vielleicht den Kurs verwechselt hat und eigentlich zur Zurückentwicklungsgymnastik eine Tür weiter wollte.

Apropos Zurückentwicklung. Der NSU-Prozess. Wenn man das jetzt so verfolgt, ich muss sagen, da wird bei mir ja die Zivilisationsdecke gaaanz dünn. Nur im Kopf, und sie hält auch, keine Sorge. Aber mal ehrlich: Kommen Ihnen bei Berichten über das Auftreten von der Zschäpe und ihrem Gschwerl und wie sie da jetzt den Rechtsstaat verarschen und die Hinterbliebenen quälen, manchmal die Wörtchen „an“, „die“, „Wand“ und „stellen“ in den Sinn? Ihnen auch? Pfui, Sie Schlimmer! Schnell wieder vergessen. Aber was meinen Sie, träumen Nazis nachts von einer zackigen Justiz, wie sie sie einrichten würden, wenn’s nach ihnen ginge? „Wissen Sie was, Herr Wohlleben, jetzt machen wir dem verweichlichten Treiben hier mal ein Ende. Bitte den Herrn abführen, nach draußen in den Hof.“ Natürlich nur im Traum. Aber das Gesicht würd ich gern sehen.