»Ich sehe mich und meine Schuld«

■ Jörg Sperling, Kustos der »Brandenburgischen Kunstsammlung« in Cottbus, fing von sich aus an, über seine Stasi-Mitarbeit als IM zu sprechen/ Die ersten, denen er sich als Spitzel offenbarte, waren Künstler, über die er Berichte geschrieben hatte

Cottbus. »Alle Politiker aufhängen!« heißt es an einer Wand in der Nähe des Zentralen Omnibusbahnhofs. »Cottbus ist das Dorf mit der Straßenbahn«, erklärt mir jemand und: »Cottbus ist schon okay. Von der Sache her. Cottbus ist jedenfalls besser als Eisenhüttenstadt. Und besser als Berlin. Das ist ein Mistnest!«

In die Gerüchteküche geriet die Niederlausitzer Metropole kürzlich durch ein »Rock gegen Links«-Festival, das am 2. Mai stattfinden sollte. Allen Antifas, die sich eventuell schon mit dem Gedanken an ein »Rock gegen Rock gegen Links«-Festival trugen, sei jedoch gesagt, daß es ausfällt. Statt »Rock gegen Links« gibt es Kultur, und in der »Brandenburgischen Kunstsammlung« verträgt sich eine Beuys-Ausstellung gut mit den »Bildern der Lust« im Erdgeschoß. »Da gibt es wohl geteilte Meinungen«, sagt Frau George, die sympathische Chefin der Kassenaufsicht. »Ich hab' aber noch nie gehört, daß jemand sagte, das ist nicht schön oder so was«, und: »Als wir früher mal 'ne Ausstellung hatten, kamen viele Männer, um mal eben 'ne nackige Frau zu sehen, weil sie sonst keine Möglichkeit dazu hatten. Heute betrachten die Leute doch mehr den künstlerischen Aspekt.«

Frau George ist recht angetan von den Bildern. Jörg Sperling dagegen, der Kustos des Museums, spricht etwas despektierlich von »Fleischschau«. Zu DDR-Zeiten stand der stets in Schwarz gekleidete Dreitagebart- und Zopfträger, wie man so sagt, für mittelstädtischen Untergrund. Heute gilt er einigen als Stasi- Spitzel. Auf eine eher beiläufig gestellte Frage am Rande einer Ausstellung im unabhängigen Kunst-»Haus 23«, antwortete Sperling fast erfreut, er sei »dabei« gewesen.

Von 1986 bis 1989 war er als IM für die Staatssicherheit tätig. »Etwa zwanzigmal« hatte er sich mit seinen Führungsoffizieren getroffen und sieben Berichte geschrieben: »Für mich waren das aber nie Berichte. Für mich waren das Texte gewesen«, meint er. »Ich hab' die mir kopiert und abgeheftet in einem Ordner, wo meine anderen Texte auch mit drinnen klemmen. Ich hab' da wunderbar verdrängt, indem ich sie normalisieren wollte.«

Während er 1972, bei einem ersten Stasi-Kontakt, noch jede Mitarbeit abgelehnt hatte, sagte er vierzehn Jahre später zu. »Es geht hier ja nicht um subversives Zeug«, hätte sein späterer Verbindungsoffizier Hans Köhler gesagt, und »ich hätte doch Ahnung von der Szene. Der (Maler) Hans Scheuerecker hatte einen Antrag auf eine Reise gestellt, und da bräuchten sie ein Gutachten. Ich hab' mir dann gesagt, bevor so ein Arschloch einen Bericht schreibt, mach' ich's. Ich kann ja nur für ihn sprechen, und ich schreib' nur das, was ich sonst auch schreibe. Außerdem hatte ich ihnen klargemacht, daß ich 'ne fachliche Zuarbeit leiste und daß ich dafür keinen Pfennig haben will. Ich hatte die Illusion, als kleiner David dem großen Goliath klarmachen zu können, was los ist. Und das war gewiß mein Irrtum. Mein Verrat war, daß ich niemandem etwas davon erzählt hatte.«

Geschadet, hofft er, habe er keinem; Vorteile von seiner Mitarbeit hat er »vielleicht« gehabt. Nachdem sich der gelernte Kunstwissenschaftler jahrelang vergeblich um eine Anstellung bemüht hatte, klappte es plötzlich in Cottbus. Ob das vor oder nach seiner Verpflichtung geschehen war, weiß er nicht mehr so genau.

Wie so viele verdrängte Sperling seinen Nebenjob und »flüchtete« sich Anfang 89 in eine Therapie bei dem Hallenser Therapeuten und Psychobestsellerautor Hans-Joachim Maaz. »Die von der Stasi waren baff. Die konnten nichts damit anfangen. Das sehe ich erst heute, daß das für die ein Problem war.« In den »Revolutionswirren« hatte er »das mit der Stasi dann alles von außen gesehen, als nicht Betroffener. Das tauchte erst wieder im Herbst 90 auf. Das Gauck- Buch im Frühjahr 91 hat mir dann den letzten Anstoß gegeben, darüber zu sprechen.« Er offenbarte sich denen, die er »verraten« hatte. Bei seinem ehemals besten Freund, dem Cottbuser Maler und Szenekaiser Hans Scheuerecker, war er der erste in der Reihe derer, die jetzt »jeden Tag vorbeikommen und sagen: ‘Ich war dabei.‚« Einige waren zwar schockiert, doch die meisten Betroffenen scheinen weniger Probleme mit Sperlings verborgener Rolle zu haben, als der ehemalige Stasi-Informant selber: »Das war immer die gleiche Situation, nachdem sie die [eher kunsterklärerischen — DK] Berichte gelesen hatten. ‘Das ist okay‚, haben sie gesagt, und das war's dann. Das ist jedoch nicht mit so einem Satz getan.«

»Ich sehe mich und meine Schuld und versuche meinen Verrat mit mir und meinen Freunden klarzukriegen. Es ist wichtig, daß du damit auch im Alltag umgehst. Nicht diese Scheißverdrängung! Klar hatte ich auch Selbstmordgedanken. Die kommen, um einem die Last zu nehmen, aber das ist totaler Quatsch. Ich kann das auch anders.«

Eine Nacht lang versuchte der Kunstorganisator in der Küche eines befreundeten Malers verzweifelt, den Bürgerrechtsvorgaben aus lückenlosem Geständnis und authentischer Reue nachzukommen und hoffte im engsten Bekanntenkreis auf Absolution. Ich hörte zu, etwas außerhalb, als Neuling, Spitzel oder Zeuge. Am schlimmsten fanden seine Freunde, daß er sich mit seinem Führungsoffizier geduzt hatte. Manchmal entstand eine Peinlichkeit, wie sie eben entsteht, wenn sich jemand entblößt. Dann steckten die Tränen fieserweise an wie das Trinken oder das Rauchen. Wie man's richtig macht mit der Vergangenheit, wußte keiner. So fühlte man sich eher mies, bis daß der Morgen alles andere wegwischte oder zumindest in den Hinterkopf rücken ließ.

Die staatlichen Bemühungen um »Vergangenheitsaufarbeitung« beurteilt Sperling eher skeptisch. Denn »die Schuld entsteht erst, wenn du's dir selber eingestehen kannst«, »ein System kann man nicht mit Gesetzen aus den Menschen austreiben«, und »auch die Politiker müssen über sich selber sprechen. Über ihre eigene Not, über ihre Probleme und über den Verrat, den sie begehen.« Detlef Kuhlbrodt