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Archiv-Artikel

ISOLDE CHARIM KNAPP ÜBER DEM BOULEVARD Souverän ist, wer seine Bruchstellen kennt

Ich war kürzlich wieder mal in Berlin. Beim taz-Kongress (danke noch mal für die Einladung!). Da hatte ich die Gelegenheit, das Neue Museum zu besichtigen. Viel ist über die Restaurierung des Hauses bereits geschrieben worden, man konnte überall von den Flecken, Rissen, Verletzungen, Amputationen des Hauses lesen. Der Architekt selbst sprach von dessen „Wunden“. Dass diese nun offen geblieben, dass die Spuren von Krieg und Verwitterung konserviert wurden, hat bekanntlich vehemente Kritiker auf den Plan gerufen. Zusammengeklebter Trümmerrest hieß es da. Ruinenfetischismus. Aber ist das Museum denn heute eine Ruine?

Es ist ja kein verfallenes Bauwerk mehr, sondern ein funktionsfähiges Ganzes. Ist es also ein Fragment? Auch das scheint es nicht zu treffen. Denn es ist – so wie es jetzt da steht – vollendet. Dass das Verlorene unwiderruflich verloren ist, ist Teil der Vollendung. Am ehesten ist es wohl ein Palimpsest – in dem Sinne, wie Freud Rom als ein solches bezeichnet hat: das Ineinander verschiedenster historischer Schichten, die hier koexistieren. Spuren, die alle gleichzeitig sichtbar werden, weil nichts wirklich vergessen werden kann. David Chipperfield und sein Berliner Projektleiter Martin Reichert haben ein deutsches Palimpsest geschaffen – ein Palimpsest der deutschen Geschichte, einen Gedächtnisort, an dem die Spuren aller Einschreibungen erhalten blieben.

Das Aufregendste an dieser Neuinterpretation des Konzepts der „Konservierung“ ist aber – vor allem aus einer Wiener Perspektive – die aktuelle politische Dimension, die sich hier eröffnet. Dann es handelt sich ja um ein Museum, also ein Gebäude, das nicht nur öffentlich ist, sondern auch Öffentlichkeit herstellt.

Was aber bedeutet es für eine Gesellschaft, sich hierin wiederzuerkennen? Was bedeutet es für einen Staat, sich in einem Palimpsest zu repräsentieren?

In jedem Fall bedeutet es den Abschied von dem, was Michel Foucault „Jupiterhistorie“ genannt hat. Dies ist eine Geschichte, die Jupiter, „dem machtdarstellenden Gott“, verpflichtet ist, eine Historie der Souveränität, der Heldengeschichten und einer Macht, die die Menschen „fasziniert, terrorisiert, petrifiziert“. Genau zu solch einer Darstellung, zu solch einer Prachtentfaltung dient doch ein Museum. Und genau solch eine Jupiterhistorie klagen die Kritiker der Sanierung des Neuen Museums ein, wenn sie nach einer Wiederherstellung des Originalzustands rufen. Und genau dem verweigert sich das Palimpsest, das Brüche, Katastrophen und Vergänglichkeiten ebenso sichtbar macht wie die Glorie.

Natürlich ist das Neue Museum – auch in seiner jetzigen Form – noch immer ein Repräsentationsbau. Aber einer, der um das Ende einer triumphalistischen Repräsentation weiß. Einer, der die Souveränität nicht mehr als ungebrochene, heroische, siegreich darstellt.

Dies bedeutet aber auch, dass die deutsche Gesellschaft eine ist, die sich in ihren „Wunden“ wiedererkennen kann. Und das ist keineswegs mehr die Gesellschaft der alten Bundesrepublik mit ihrem Mea culpa. Denn heute sind die Brüche „staatstragend“. Das heißt, und man muss das Paradox nachdrücklich betonen, Deutschland ist ein Staat, der sich in seinen Brüchen „repräsentieren“ kann.

Das ist die einzige Form, in der sich heute Macht noch darstellen kann – eine Repräsentation nach dem Ende der Repräsentationen. Das betrifft natürlich nicht nur Deutschland. Aber Deutschland – beziehungsweise Berlin – mit seiner, nun ja, besonderen Geschichte tritt hier gewissermaßen die Flucht nach vorne an. Es braucht schon ein großes Maß an Selbstvertrauen, damit ein Staat an einem so zentralen Ort wie einem Museum seine „Wunden“ derart offenlegt – darin besteht eben der Unterschied zur alten BRD. Das ist die avancierte Form der deutschen „Normalisierung“. Eine Form, bei der die Avantgarde durch den Staat betrieben wird – und nicht durch eine Subkultur.

Das erfüllt eine Beobachterin aus Wien, der Stadt der geputzten Fassaden, mit einem leichten Anflug von Neid.

■ Isolde Charim ist freie Publizistin und lebt in Wien