IN DER TÜRKEI DROHTE METIN KAPLAN EIN POLITISCHER PROZESS : Grenzen des Rechtsstaates
Die deutsche Justiz ist sich einig. Anders als die Bundesregierung ist sie der Meinung, der Chef des so genannten Kalifatsstaates, Metin Kaplan, dürfe weder in die Türkei ausgeliefert noch abgeschoben werden. Ein fairer Prozess sei nicht garantiert, ja es drohe ihm ein völkerrechtswidriges Verfahren.
Die Frage ist, wie müsste ein fairer Prozess gegen Kaplan aussehen. Die Forderungen von Stoiber und Co., die Türkei müsse nun einwandfreie Garantien vorlegen, die ein rechtsstaatliches Verfahren gegen Kaplan sicherstellen, zielen ins Leere, weil Ankara dies längst getan hat. In den letzten zwei Jahren wurde die Todesstrafe abgeschafft, die Antiterrorgesetzgebung westeuropäischen Standards angepasst und die Einschränkung der Meinungsfreiheit weitgehend abgeschafft.
Im Auslieferungsverfahren hätte man die Gelegenheit gehabt, die Anklage auf die Punkte einzugrenzen, die nach dem deutschen Strafrecht zulässig wären. Trotzdem hat das Verwaltungsgericht in Düsseldorf eine Auslieferung abgelehnt. Dabei war wohl kaum die vom Gericht beschworene Gefahr ausschlaggebend, dass in einem Verfahren gegen Kaplan Aussagen von verurteilten Gefolgsleuten eingeführt werden könnten, die möglicherweise unter Folter zustande gekommen sind.
Die türkische Justiz hätte auf solche Aussagen getrost verzichten können. Denn Kaplan soll in der Türkei vor Gericht gestellt werden, weil er zum Umsturz und zur Errichtung eines islamischen Gottesstaates aufruft. Das ist natürlich in erster Linie ein politisches Delikt, selbst wenn man ihm nachweisen will, dieses Ziel gewaltsam zu verfolgen. Kaplan ist im türkischen Verständnis kein ordinärer Krimineller, sondern er wird aus politischen Gründen verfolgt.
Nur deshalb ist es richtig, ihn nicht auszuliefern oder einfach abzuschieben. In solchen Fällen verschwimmt schließlich die Grenze zwischen der Ahndung einer kriminellen Tat und politischer Verfolgung – nicht nur in der Türkei, sondern auch in Deutschland, wie zuletzt die RAF-Prozesse gezeigt haben. Übrigens hat sich damals die französische Justiz zeitweise geweigert, angebliche RAF-Mitglieder an die Bundesrepublik auszuliefern.
JÜRGEN GOTTSCHLICH