IN DER STRASSE : Gerichtsmedizin
Am Tage waren die Musiker vom Balkan wieder durch die Gegend gezogen. Wie das letzte Jahr und das Jahr zuvor. An- und abschwellten die immergleichen Loops einer seriellen Melancholie. Dann war es wohl schon Mitternacht und immer noch warm, als ich zurückkam. Vor dem Nachbarhaus parkte ein dunkelgrüner Transporter in zweiter Reihe. Auf seinem Dach blinkte Blaulicht. An seinen Seiten stand in weißen Buchstaben „Gerichtsmedizin“. Zuvor hatte ich noch nie einen Wagen der Gerichtsmedizin gesehen. Im „Tatort“ vielleicht, als Requisite am Rande, aber nie in echt. Gerichtsmedizin bedeutete Tod. Jemand wird gestorben sein, der zuvor Teil dieser Straße gewesen war. Irgendwie wurde es stiller. Während ich mein Rad abschloss, dachte ich „Selbstmord“.
Ich ging zum Imbiss ein paar Meter weiter. Alles war normal. Auf weißen Plastikstühlen saßen der Besitzer, ein freundlicher Ägypter, mit einem Freund oder Stammkunden, einem drahtigen, kleinen Algerier, glaube ich, in schwarzer Lederjacke. Beide tranken Tee. Ich fragte, ob sie wüssten, was geschehen sei? „Nein.“ Ich sagte, die Gerichtsmedizin käme immer, wenn sich jemand das Leben genommen hat. Der Algerier stand gleich auf und ging eilig zu dem Lokal bei dem Haus, vor dem der Wagen der Gerichtsmedizin stand, um die Leute, die dort saßen, zu fragen. Er ist ja viel öfter als ich auf der Straße und kennt hier die Menschen viel besser. Ich ging in den Imbiss, bestellte erst ein Weizenbier, nahm dann aber doch ein Beck’s. Als ich den Imbiss mit meinem Bier verließ, kam er mir entgegen. Tatsächlich sei jemand gestorben. Alles sei aber ganz normal gewesen.
„Das war mein Freund“, sagte der Algerier. Seine Haut glänzte. Ihm fehlten ein paar Zähne. Obgleich sein Bart schon ergraute, wirkte er jung. Ich ging in meine Wohnung, trank das Bier und machte ein Räucherstäbchen an.
DETLEF KUHLBRODT