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Archiv-Artikel

IM SÜDWESTEN MARKIEREN WEINFESTE DIE HAUPTBALZZEIT. EINE BEGEGNUNG MIT DER UNSCHULD FRÜHERER TAGE Wenn der Sommer geht

MARTIN REICHERT

Können Sie sich noch an Ihre Sandkastenliebe erinnern? Meine war eine Frau – und ich bin ihr gerade zufällig über den Weg gelaufen. Nicht ganz zufällig vielleicht, denn sie lebt noch immer in jenem Ort in Südwestdeutschland, in dem ich geboren wurde. Einmal im Jahr, wenn der Sommer geht, gibt es dort ein Weinfest, bei dem auf dem Markplatz Schweine geröstet und unzählige Fuder Wein konsumiert werden. Der Schweine wegen hat sich in den letzten Jahren Protest geregt, vonseiten der Veganer, und was den Wein angeht, ist nun die sogenannte „Flaschenmitnahme“ strengstens untersagt – was bedeutet, dass es nicht erlaubt ist, festfremde Flaschen von zu Hause im Rucksack einzuschmuggeln.

Diese Gemeinschaft stiftenden Feste aus der Nachkriegszeit gibt es ja überall in Deutschland – ob sie nun „Reiterball in Schlitz“ oder „Wäldcheskerb“ heißen –, aber dieses hier ist nun ganz besonders, weil es das größte Fest meiner Kindheit war. Bis auf den Veganerprotest ist auch alles auf beruhigende Weise beim Alten geblieben. Die Menschen, die man noch erkennt, sehen aus wie schlechter gewordene Kopien ihrer selbst – und meine Sandkastenliebe sieht nun aus wie ihre Mutter. Weil ich beide sehr gerne mag, war die Begegnung zwar zunächst verwirrend, aber auf jeden Fall von Herzlichkeit geprägt: „Was machen Sie, äh, du denn hier.“

Es war Glaspfand, mit dem meine Sandkastenfreundin und ich uns damals das „Kirmesgeld“ verdient hatten. Die in der Umgebung stationierten US-Soldaten hatten den Dollar locker in der Tasche sitzen und ließen ihre Gläser stehen. So konnten wir jeden Tag Karussell fahren, bis uns schwindelig war. Alles drehte sich, immer wieder und immer höher und im Hintergrund sang Blondie „Heart of Glass“. Einmal standen meine Sandkastenfreundin, ihre Mutter und ich an der „Berg-und-Talbahn“ und beobachteten ungläubig ein junges Pärchen, das sich lange küsste. Ihre Mutter sagte nur: „Ach, ihr zwei wisst noch gar nicht, wie schön das ist.“

So viele Zungenküsse und Schlimmeres später hatte ich das alles schon fast vergessen, und auch, dass ich eine Sandkastenliebe hatte. Denn das hatte sie mir gesagt an diesem Abend, „Du, du warst meine Sandkastenliebe.“ Wenn ich richtig rechne, sind wir beide heute so alt, wie ihre Mutter damals war, als sie uns das mit dem Küssen versuchte zu erklären.

Nach einigen weiteren festeigenen Flaschen saß ich mit meinen Freunden aus Berlin, die der Schweine und des Moselweins wegen mitgekommen waren, auf einem Karussell mit lauter US-Soldaten, die, von den Narben abgesehen, wie Kinder aussahen. Und weil der Abend so schön war und alles sich so schön drehte, überredete ich meinen besten schwulen Freund, mit mir „Berg-und-Talbahn“ zu fahren. Wir waren die einzigen Gäste und alles drehte sich immer höher und immer schneller und im Hintergrund sang Lady Gaga.

DIE FÜNFTAGEVORSCHAU | KOLUMNE@TAZ.DE

Donnerstag

Ambros Waibel

Blicke

Freitag

Michael Brake

Kreaturen

Montag

Maik Söhler

Darum

Dienstag

Yacinta Nandi

Die gute Ausländerin

Mittwoch

Matthias Lohre

Konservativ

Zurück in Berlin tut mir die ganze linke Seite weh von der „Berg-und-Talbahn“ und in der Hosentasche habe ich unzählige nicht eingelöste Pfandflaschenbons gefunden. Aber nach allem bin ich sicher, dass ich schon als Kind wusste, was Liebe ist.