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Aus taz FUTURZWEI

Historiker Sönke Neitzel im Gespräch Überraschung als Politik

Militärhistoriker Sönke Neitzel über seine eigene Überraschung und die politische Instrumentalisierung von Überraschtsein.

Foto: Dennis Vernooij

taz FUTURZWEI: Herr Neitzel, worüber sind Sie in den letzten zwölf Monaten am meisten überrascht gewesen?

SÖNKE NEITZEL

Der Mann:

Professor für Militärgeschichte/Kulturgeschichte der Gewalt an der Uni Potsdam.

Geboren am 26. Juni 1968 in Hamburg.

Das Werk:

Deutsche Krieger. Vom Kaiserreich zur Berliner Republik. Ullstein 2022 – 832 Seiten, 19,99 Euro. Als Taschenbuch gerade neu erschienen mit einem Vorwort zur Zeitenwende.

Zusammen mit Harald Welzer: Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben. Fischer 2011. Rekonstruktion der Kriegswahrnehmung von Soldaten im Zweiten Weltkrieg durch Auswertung von 150.000 Seiten Abhörprotokollen.

Sönke Neitzel: Was mich wirklich erstaunt hat, war die schlechte Performance der russischen Armee zu Beginn des Krieges. Und daraus folgend, dass es die Ukraine noch gibt. Der russische Angriff dagegen war überhaupt nicht überraschend. Es gibt kaum einen Angriff in der Weltgeschichte, der weniger überraschend kam.

Haben wir nicht fast alle gesagt, wie überrascht wir waren?

Eine Überraschung ist etwas, womit man überhaupt nicht gerechnet hat, wenn einem der Himmel auf den Kopf fällt. Der russische Aufmarsch hat aber vor aller Weltöffentlichkeit stattgefunden und der amerikanische Geheimdienst hat mehrfach davor gewarnt, dass es einen solchen Angriff geben werde. Also das konnte wirklich niemanden überraschen.

Unsere Außenministerin behauptete am Morgen des Überfalls, »in einer anderen Welt aufgewacht« zu sein.

Auch wenn es nicht überraschend kam, hat Frau Baerbock insofern recht, dass erstmals nach 1945 der große Krieg nach Europa zurückgekehrt ist. Natürlich darf man hierbei die Jugoslawien-Kriege nicht vergessen. Aber dass wir jetzt eine Konfrontation haben, in der der zurückgekehrte Kalte Krieg in einen heißen umzukippen droht, dass wir wieder über nukleare Bedrohungen reden und militärische Aufrüstung, das ist schon ein neues Szenario, von dem die meisten gehofft haben, dass es nie eintritt. Was mich angeht, so war meine Überraschung – wie die aller Experten – über die geringe Leistungsfähigkeit der russischen Armee leider auch ein Ausweis meines Unwissens.

Wie kam das?

Die Beschäftigung mit der russischen Armee war nicht intensiv genug und basierte auf einer Analyse der Manöver, der Reformen und anderer Faktoren. Überraschung zeigt eben auch, wie wenig wir eigentlich in die Materie eindringen, wie wenig wir auf das hören, was Leute sagen, die mehr oder anderes Wissen haben, und wie sehr man auch Stimmen ignoriert, die konträr zur eigenen Meinung sind.

Es gibt eine unmittelbare Verbindung zwischen Überraschung und wunschgetriebener Betrachtung der Wirklichkeit?

Genau. Es gibt mit Hinblick auf den Ukraine-Krieg eine Vorstellung der Wirklichkeit, die alle anderen Stimmen ignoriert, die dagegensprechen werden. Da denke ich immer an das schöne Wort von Hans Delbrück, einem Publizisten des Kaiserreiches. Der sagte: »Die Menschen brauchen Schlagworte, grob gefügte Münzen, die durch tausend Hände gehen und sich doch nicht abnutzen.« Da ist etwas dran, weil viel zu wenig darauf hingewiesen wird, wie wenig wir eigentlich wissen. Und dass wir auf einer ganz geringen Quellen- und Datengrundlage extrapolieren. Gerade für den Historiker ist das unbefriedigend. Ich habe in vielen Interviews darauf hingewiesen, dass ich nur Hypothesen aufstellen kann. Dann war immer die Reaktion: »Okay, wissen wir ja, aber jetzt sagen Sie doch mal, ob Putin nun Kiew einnimmt oder nicht?«

Was schließen Sie daraus?

Es gibt einen starken Wunsch nach Eindeutigkeit. Das Einschränkende oder Unklare wird ignoriert. Und wenn es anders kommt als prognostiziert, dann ist man unglaublich überrascht. Wir müssen uns klarmachen, dass man bestimmte Dinge eben nicht voraussehen kann und gleichzeitig müssen wir akzeptieren, dass sehr viele verschiedene Szenarien möglich sind. Wenn man mal sieht: Was hat eigentlich alles passieren müssen, dass Adolf Hitler Reichskanzler werden, den Zweiten Weltkrieg anzetteln und den Holocaust umsetzen konnte? Das beginnt mit der Schlacht in Flandern im Ersten Weltkrieg, in der die anderen nicht richtig gezielt haben und er eben nicht umgekommen ist. Dass Stresemann so früh gestorben ist, dass Hindenburg 1925 Reichspräsident wurde, überall spielt der Zufall mit.

Zufall ist aber nichts für Historiker.

Es macht die Historiker verrückt, dass die Kategorie des Zufalls eine so große Rolle spielt. Historiker wollen ja mit Strukturanalysen und auch mit biografischen Rekonstruktionen den Lauf der Geschichte bestimmen. Sie sagen immer: Kein Determinismus – aber dann erklären sie doch, warum es kam, wie es kam. Da sind wir wieder bei der Uneindeutigkeit, die unbefriedigend ist, wenn viele Bürger Informationen wollen, und dann legt man sich als Experte doch fest und alle sind völlig überrascht, wenn es eben anders kommt.

Der Zufall ist keine historische Kategorie, sagen Sie. Historiker suchen immer nach Kausalitäten. Weil A passiert, muss B eintreten. Tut es aber nicht?

Zumindest können wir nicht sicher sein. Die Frage ist also, wie wir mit dieser Unsicherheit operieren. Ob wir dann sagen: Es kann sein, dass Putin den Krieg morgen einstellt und nach Hause geht oder dass er morgen den nuklearen Krieg beginnt. Das wären jetzt zwei extreme Szenarien, die theoretisch denkbar wären.

Wir arbeiten in Wahrscheinlichkeiten für ein bestimmtes Ereignis, die eine große Unschärfe haben, weil wir Putin nicht in den Kopf schauen können, nicht wissen, wie seine Kalkulationen sind und wie sein Umfeld agiert. Wir fragen also: Was würde ich machen als Putin? Wir nehmen bestimmte Ziele an, die Putin haben könnte. Jetzt will ich Putin nicht mit Hitler vergleichen ...

aber?

Auch damals haben sich alle möglichen britischen und französischen Diplomaten gefragt, was Hitler denn wohl vorhat. Es gab widersprüchliche Annahmen, aber eine Idee in Großbritannien war, dass die Deutschen wegen der Weltwirtschaftskrise leiden und man deshalb Wirtschaftsbeziehungen mit ihnen aufbauen müsse, damit es ihnen materiell besser gehe. Dann werde Hitler keinen Krieg anfangen. Aus britischer Sicht war das eine sinnvolle Argumentation. So etwas hat Hitler aber überhaupt nicht interessiert. Was ich sagen will: Letztlich sagen die Annahmen über Putin mehr über uns aus als über ihn.

Wenn wir verstehen, dass wir permanent überrascht werden, weil wir nur in unseren eigenen Wahrscheinlichkeitsvorstellungen denken, müsste man dann nicht in der Konsequent mit dem rechnen, was uns am unwahrscheinlichsten erscheint?

Ich gehe mal davon aus, dass Sie keine Splatter-Filme gucken?

Nö.

Jedenfalls ist einer meiner Lieblingsfilme: World War Z, eine Zombie-Apokalypse. Brad Pitt fliegt nach Jerusalem, weil die Israelis eine Mauer gebaut haben, die die Zombies davon abhält, in die Stadt einzudringen. Er fragt sich, wie sie das vorausgeahnt haben. Daraufhin erzählt ihm ein israelischer Geheimdienstmann, dass sie das System des zehnten Mannes verwenden. Wenn sich neun Leute einig über ein Szenario sind, spricht sich der zehnte automatisch dagegen aus. Eigentlich müssten Geheimdienste, Nachrichtendienste und Wissensproduzenten auf Regierungsebene genau so funktionieren.

Passiert aber nicht.

Nein, ich habe den Eindruck, dass unsere Nachrichtendienste eher nach politischer Erwünschtheit agieren. Dabei wäre es wichtig, sich auch auf das schlechteste Szenario vorzubereiten, damit man im Eintrittsfall Handlungsoptionen hat. Zum Beispiel halte ich die Energieversorgung aus Russland und die damit verbundene ausgestreckte Hand nicht für einen Fehler. Sehr wohl aber, dass man sich nicht für den Fall vorbereitet, bei dem Putin den Gashahn zudreht. Wenn man aber mit ganz vielen Leuten aus den verschiedensten Kontexten spricht, wird dieses Argument nicht als valide angesehen – und das acht Jahre nach Putins Überfall auf die Krim und den Donbas.

»Alle Thinktanks empfehlen: Bereitet euch vor. Aber die Politik sagt: So funktioniert Politik nicht.«

Warum nicht?

Als Antwort bekommt man aus dem politischen Raum: »So funktioniert Politik nicht. Politik bereitet sich nicht auf das Ungeschehene vor, sondern nur auf das Geschehene.« Alle großen Thinktanks haben immer gesagt, dass es vier Bedrohungen gibt: China, Russland, Cyber und internationaler Terrorismus. Die Empfehlung war: Tut was, bereitet euch vor. Mein Befund lautet, dass es auch bei allergrößtem Flehen nicht möglich war, die Befunde aus der Wissensproduktion in die politische Handlungsebene zu übertragen. Die beiden Teile haben überhaupt nicht kommuniziert.

Überraschung ist also ein Mangel an Wissen oder Krisenpräventions-Bereitschaft. Die Politik will oder kann nicht vorausschauend agieren, deshalb will und muss sie überrascht sein, wenn das passiert, auf das sie uns nicht vorbereitet hat?

Ja, genau. Politik will von Eindeutigkeit ausgehen. Politik will sagen: Was wir getan haben, ist das Einzige, was wir tun konnten. Überraschung übernimmt hier eine Art Schutzfunktion. Wenn ich überrascht bin, wenn ich Dinge gar nicht voraussagen kann, dann trifft mich ja auch keine Schuld. Wenn man sagt: Kein Mensch hätte damit rechnen können, dass Putin die Ukraine angreift, dann muss ich mich nicht dafür verantworten, keine entsprechenden Vorkehrungen getroffen zu haben. Die 100 Milliarden Euro-Investitionsankündigung in die Bundeswehr hat sich Olaf Scholz ja auch nicht binnen drei Tagen ausgedacht. Das war die Summe, die die Bundeswehrplaner seit Jahren in der Schublade hatten, um die Streitkräfte wieder in einsatzbereiten Zustand zu bringen. Was Scholz dann versucht hat, war zu argumentieren, dass das der einzige Schritt war, den wir zu dem Zeitpunkt gehen konnten.

Nun wird gesagt, Angela Merkel hätte schon 2014 handeln müssen. Aber erst als die Panzer Richtung Kiew rollten, war eine Wiederherstellung der Verteidigungsfähigkeit mehrheitsfähig?

Das sehe ich nicht so. Angela Merkel hatte eine hohe Authentizität und Kompetenz in Bezug auf Russland und auf Putin. Wenn sie gesagt hätte: Hört mal zu, ich habe viele Male mit dem Mann zusammengesessen und telefoniert, meine Analyse ist, dass er die Demokratie verachtet und dass überhaupt nicht vorauszusehen ist, wie er handelt. Deswegen müssen wir uns auf alles vorbereiten und brauchen auch eine einsatzbereite Bundeswehr – zumindest ein Teil der Bevölkerung wäre bereit gewesen, dem zu folgen. Es braucht eben Argumente. Die Politik unterschätzt die Kraft des Argumentes, sie sollte uns nicht für dumm verkaufen, sondern argumentieren.

Wahrscheinlich ist aber auch, dass man Merkel 2014 zur Bellizistin erklärt und gesagt hätte: »Ja, haben wir den nichts aus unserer Geschichte gelernt?«

Ja, die taz hätte bestimmt so geschrieben. Der Skandal ist für mich, dass Merkel im Juni dieses Jahres im Gespräch mit Alexander Osang gesagt hat: »Putin findet Demokratie falsch, das war mir immer klar.« Ja, Frau Merkel, wie wäre es denn, wenn Sie uns das mal gesagt hätten? Wenn man einen solchen Befund hat und die Streitkräfte in so einem erbärmlichen Zustand lässt, das ist fragwürdig.

Der Politologe Ivan Krastev sagt: »Wir müssen uns darauf vorbereiten, dass konventionelle Kriege wieder ›normal‹ werden könnten.« Serbien und die Türkei werden als Kandidaten für den nächsten Versuch genannt, eigene Ziele militärisch durchzusetzen. Bei aller Variabilität der Daten, wie schätzen Sie das ein?

Man kann es eben nicht genau voraussehen. Das Problem bei solchen Prognosen ist, dass wir einen unmittelbaren Trend der Gegenwart in die nächsten fünfzig Jahre extrapolieren. Das ist schon immer schiefgegangen. Vor einigen Jahren dachten die Leute, dass es bald nur noch Cyberkriege gibt, und man fragte mich, wozu es eigentlich noch Panzer braucht. Aber die tödlichste Waffe ist immer noch die AK-47.

Die Kalaschnikow, ein sowjet-russisches Schnellfeuer- und Maschinengewehr.

Kriege werden sich auch weiter verändern, aber vieles an ihm bleibt konventionell. Der Cyberraum spielt eine Rolle, aber es war völliger Quatsch zu glauben, dass sich künftig alles im Cyberraum abspielen wird. Das belegt der Ukraine-Krieg auch. Aber keiner von uns kann sagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit China in Taiwan einmarschiert und mit welchen Mitteln oder ob sie einfach warten, bis sie so hochgerüstet sind, dass den Amerikanern die Lust vergeht.

Sie haben in einem Zeitungsartikel gesagt: »Wir sollten uns schleunigst um die Verteidigung des Baltikums kümmern!« Das werden wir aber doch nicht und dann werden wir wieder überrascht sein?

Hoffentlich nicht. Wenn eine Schlussfolgerung nach dem 24. Februar gezogen werden muss, dann ist das doch die, dass wir die Dinge zu sehr aus unserer Brille und in unserer Logik betrachten, als dass wir sie voraussagen könnten. Da keiner sagen kann, was Putin tun wird, müssen wir vorbereitet sein für das schlimmste Szenario.

Das für uns schlimmste und daher tabuisierte Szenario ist, wenn Putin Deutschland angreift. Sagen Sie da auch, darauf müssen wir vorbereitet sein?

»Sind wir bereit, wenn Putin mit Raketen Berlin angreift?«

Exakt. Das ist die Debatte der Flugabwehr. Was passiert, wenn Putin Raketenangriffe auf Berlin vornimmt? Sind wir dafür bereit? Ganz blank sind wir da nicht, aber gut vorbereitet auch nicht. Dass wir ein Kriegsszenario haben, in dem Deutschland direkt angegriffen wird und seine Flanken verteidigen muss, ist unwahrscheinlich. Dass aber die Nato-Ostflanke angegriffen wird und Deutschland als Nato-Partner zur Verteidigung beitragen soll, ist schon wahrscheinlicher.

Putins Angriffskrieg in der Ukraine wird wohl nicht schnell zu Ende sein?

Nein. Die »Spezial-Operation«, die er geplant hatte, also eine schnelle Übernahme, ist schiefgegangen. Die Idee war, dass der Westen sich daraufhin eine Ausrede ausdenkt und die Ukraine fallenlässt. Nun versuchen wir, mit der Realität eines langen Krieges umzugehen. Aber alle fragen mich natürlich: Herr Neitzel, wie geht denn nun der Krieg aus?

Wir nicht, denn wir haben Ihnen ja gut zugehört.

Der Krieg ist völlig offen. Der Historiker Holger Afflerbach hat in seinem Buch Auf Messers Schneide über den Ersten Weltkrieg herausgearbeitet, dass es unwahrscheinlich war, dass die Deutschen den Krieg gewinnen, aber dass sie einige Fehler begehen mussten, um ihn zu verlieren. Seine Argumentation ist, dass es lange nicht klar war, wie dieser Krieg ausgeht. Das gilt auch hier. Der Ausgang ist von so vielen Faktoren militärischer, wirtschaftlicher, finanztechnischer und politischer Art abhängig, dass wir das nicht voraussagen können.

Interview: PETER UNFRIED und HARALD WELZER

Dieser Beitrag ist im September 2022 in taz FUTURZWEI N°22 erschienen.