Hartmut Rosa im Gespräch : Die Zukunft ist nicht zu sehen
Der Soziologe Hartmut Rosa über die zunehmenden Aggressionen einer zukunftslosen Gesellschaft.
taz FUTURZWEI: Was war die Zukunft in der Vergangenheit, was ist sie in der Gegenwart und was müsste sie in der Zukunft sein, Herr Rosa?
Der Mann: Soziologe und Politikwissenschaftler. Direktor des Max-Weber-Kollegs in Erfurt. Lehrt Soziologie an der Universität Jena. Seine Theorie der sozialen Beschleunigung sagt, dass die technische Beschleunigung der Welt nicht zu mehr Zeit geführt hat, sondern auch das Lebenstempo beschleunigt.
Jahrgang 1965. Geboren in Lörrach. Lebt in Grafenhausen im Schwarzwald.
DasWerk (u. a.): Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung. Suhrkamp 2016 – 815 Seiten, 20 Euro
Unverfügbarkeit. Residenz 2018 – 144 Seiten, 20 Euro
Demokratie braucht Religion. Kösel-Verlag 2022 – 80 Seiten, 12 Euro
Das taz FUTURZWEI-Gespräch fand per Zoom statt.
Hartmut Rosa: Als Soziologe interessiert mich nicht die Ideengeschichte, also das, was im philosophischen Diskurs relevant war, sondern die Mentalitätsgeschichte, also das, was kulturprägend war. Meine These lautet: Wir leben in der Gesellschaft, die sich nur dynamisch stabilisiert, also des permanenten Wachstums und der Beschleunigung bedarf, um sich selbst zu erhalten. Das zwingt in ein mehrfaches Aggressionsverhältnis.
Nämlich?
Erstens, Aggression gegen die Natur, über die man immer besser herrschen muss. Zweitens, Aggressionen auch in sozialen Verhältnissen, weil die anderen Menschen als Konkurrenten wahrgenommen werden. Drittens führt das zu einem aggressiven Selbstverhältnis, etwa in der Selbstoptimierung. Bei allen Schattenseiten, die die Moderne mit sich brachte, herrschte lange eine generelle kulturelle Stimmung, die Wachstum als Vorwärtsbewegung betrachtet. Das sieht man daran, dass überall, wo Modernisierungsprozesse stattfinden, Eltern sagen, sie arbeiten hart, damit es die Kinder mal besser haben. Die Idee war, dass Wachstum zur Überwindung von Knappheit führt, auch zur Überwindung von Unwissenheit, Armut und Mangel. Und damit zu einem freieren und besseren Leben. Der Strom der Geschichte geht von unseren Vätern und Müttern durch uns hindurch in eine bessere Zukunft.
Das ist vorbei?
Ja, um das Jahr 2000 herum hat sich dieser Horizont eingetrübt, und jetzt geht es global eher darum, dass Eltern für ihre Kinder das erhalten wollen, was sie haben. Es gibt eine Umfrage unter Jugendlichen mit mehr als 70.000 Antworten aus Deutschland und Frankreich, nach der nur noch 22 Prozent glauben, dass sie ein besseres Leben haben werden als ihre Eltern. Das dreht die kulturelle Verfassung um 180 Grad.
Was passiert jetzt?
Man hat nicht mehr das Gefühl, wir laufen nach vorn und auf einen Horizont zu, und es macht Spaß, zu kämpfen, sich anzustrengen, um etwas zu schaffen. Jetzt müssen wir immer schneller laufen, bloß um nicht abzurutschen. Wir laufen gegen einen Abgrund an, der immer näher auf uns zu kommt. Jetzt heißt es in der Regierung, wir müssen es schaffen, aus der Krise »herauszuwachsen«. Aber wir wissen: Wenn wir genau das schaffen, werden wir die ökologische Krise verschlimmern. Und das verstärkt die Aggressionshaltung.
Dieses biografische Modell, wonach es immer besser für einen selbst wird und man seine Lebensverhältnisse durch Akkumulation von Qualifikationen erhöhen kann und es nach vorn geht, ist ein relativ neues Phänomen.
Ja, das meine ich. Das war nicht über alle Zivilisationsstufen hinweg so, sondern eigentlich erst seit Mitte des 18. Jahrhunderts. Ab da trickelte es in die Gesellschaft down. Der Historiker Reinhart Koselleck hat das gut darstellt mit dem Begriff der »Sattelzeit«.
Der Begriff meint die Übergangszeit zwischen Früher Neuzeit und Moderne zwischen 1750 und 1850.
Koselleck hatte recht mit dem Auseinandertreten von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont, der heute dazu führt, dass die Oma zu ihrem Enkel sagt, meine Welt war eine andere als deine, denn zu meiner Zeit war es nicht okay, schwul zu sein, und bei dir ist es ganz normal. Mit der Vorwärtsbewegung kommt dieses Auseinandertreten. Und die Geschichtserfahrung kommt zum Stillstand, der Sinn für die Verbindung durch die Generationenzeit hindurch. Ich nenne das historische Resonanz, dass Vergangenheit und Zukunft zusammenhängen. Das ist in vielen Kulturen präsent, weil die Ahnen sinnhaft noch mit uns leben, etwa der Friedhof noch mitten im Dorf liegt.
Wenn man sich die Rede des Bundespräsidenten von Ende Oktober anhört, dann ist da die neue Zeit komplett umgekehrt kodiert.
Ja, die »Zeitenwende« geht rückwärts. Die neue Zeit ist negativ und nicht positiv.
»DIE ›ZEITENWENDE‹ GEHT RÜCKWÄRTS. DIE NEUE ZEIT IST NEGATIV UND NICHT POSITIV.«
Hartmut Rosa
Wenn die »Zeitenwende« des Kanzlers nach hinten führt, wo ist denn dann die Zukunft hin?
Die Zukunft ist gerade nicht zu sehen. Es geht für alle Seiten nur um die Verhinderung des Schlimmsten. Es gibt nur apokalyptische Szenarien, gegen die wir kämpfen. Klimaapokalypse, populistische Diktaturen und ökonomische Krisen. Dass die Finanzmärkte crashen, ist immer noch ein großes Horrorszenario. Wenn man mit Politikern und Politikerinnen spricht, dann geht es auch nur noch um »Feuerlöschen«. Ich habe neulich mit Leuten aus dem Wirtschaftsministerium gesprochen. Die löschen nicht mal mehr das Feuer, sondern versuchen nur, die Flammen ein bisschen zu verteilen, denn es brennt sowieso weiter. Die Krisen sind nie aus, die Klimakrise nicht, die globalen Konflikte werden weiter mit Macht geschürt. Und die ökonomischen Krisen lassen sich auch nicht beseitigen, niemals.
Je horizontloser eine Gegenwart erscheint, desto notwendiger ist es, dass es von theoretischer oder aktivistischer Seite eine Form von Rezukunftisierung gibt.
Ich glaube auch, dass es das braucht. Es reicht nicht, nur zu kritisieren. Das habe ich im Zusammenhang meiner Bücher zu Resonanz und Beschleunigung auch gemerkt. Die Leute haben gesagt: Okay, wir haben es kapiert, aber was machen wir jetzt?
Kritisch sein können wir einfach gut.
Ja. Die Gesellschaftskritik gibt es immer, sowohl in der neomarxistischen als auch in der Kritischen Theorie. Aber die Frage ist, was machen wir stattdessen? Die Neo-Adorniten, mit denen ich mich auch in der Uni immer rumschlage, sagen, man muss beim Negativen stehenbleiben.
Immer noch?
Ja. Das Argument ist mit Adorno entwickelt, dass in einer historisch schlechten oder falschen Situation des »Lebens im Falschen« auch die Vision des Guten aus dem Falschen entsteht. Wenn du was Falsches nimmst und dafür ein Gegenbild projizierst, dann gehört das immer noch zum Falschen. Die Vision des Guten kann nicht aus dem Falschen erwachsen, wir können nur das Falsche ablehnen, um zu schauen, was sich ergibt. Mit Adorno gedacht, wäre mein Resonanz-Konzept eigentlich nur die Utopie einer kapitalistischen Verdinglichungsgesellschaft. Ich halte mich zwar für nah der adornitischen Linie, aber mit einem anderen Akzent.
Nämlich?
Kritische Theorie ist reiner Negativismus. Aber du brauchst einen Horizont, etwas, wo du hinwillst. Deswegen wollte ich der Entfremdung, die ich immer kritisiert habe, ein positives Bild entgegenstellen und habe versucht zu fragen, was heißt es denn, eine resonante Gesellschaft zu sein? Aber wie ich am Anfang gesagt habe: Ich will keine Ideengeschichte schreiben. Es reicht nicht, schöne Ideen zu entwerfen. Inzwischen glaube ich sogar, das Problem liegt nicht im Bereich der Ideen.
Sondern?
Man braucht eine andere Form der Haltung: Disposition ist da der Begriff. Die Vision der Zukunft, die wir brauchen, liegt nicht in der Beantwortung der Frage, was wir jetzt »in Angriff« nehmen, denn das ist wieder diese Verfügbarkeitshaltung.
Was tun wir, wenn wir nicht etwas tun?
Wenn wir über eine bessere Zukunft nachdenken, kommt die Logik noch aus der alten Zukunft: Du musst kreativer werden, du musst achtsamer werden, du musst einfach mehr auf deine Bedürfnisse achten … du musst, du musst, du musst. Da genau liegt das Problem. Resonanz beginnt nicht mit etwas, das ich tue, sondern damit, dass ich mich anrufen lasse, mich berühren lasse von einer Sache, die mir dann auch wichtig ist. Wir müssen raus aus dieser Haltung: Was machen wir jetzt? Je schlimmer es wird, desto stärker wird auch diese Angriffshaltung. Wir müssen kämpfen, rennen, machen und tun. Mich stört das auch ein bisschen bei meinen Kollegen, die mit ihren sozialen Kämpfen kommen. Ich denke, dass da im Moment eher das Problem liegt und nicht die Lösung.
Warum?
Weil es diese Aggressionshaltung zur Welt auf allen Ebenen verschärft.
Sie sagten: Aggression gegen die Natur, gegen das Soziale, gegen sich selbst.
Auf der Makroebene, im Verhältnis zur Natur, muss man es, glaube ich, nicht lange beschreiben. In der sozialen Welt ist der Krieg zurück. An der London School of Economics gibt es den Kollegen Michael Bruter, der zeigt, wie Auseinandersetzungen ihre Form ändern: Es geht nicht mehr darum, dass man mit Menschen anderer politischen Überzeugung diskutiert und verhandelt, sondern daraus werden Idioten und Feinde, die man notfalls umbringt.
Sprechen wir jetzt über Putin?
Längst nicht nur.Da hat sich auf allen Ebenen etwas geändert. Wir haben nur noch Wutbürger. Klimaleugner hassen Klimaaktivisten und andersrum. Die einen sind wütend, weil wir so viele Flüchtlinge ins Land lassen, die anderen, weil sie im Mittelmeer ertrinken. Vom Krieg bis zur Gender-Debatte gibt es in der politischen Kultur nur mehr Aggressionsverhältnisse. Und das haben wir auch, mein dritter Punkt, uns selbst gegenüber. Gerade junge Leute fühlen sich nicht mehr wohl in ihrer Haut, sie wollen schöner und besser sein. Dieses Aggressionsverhältnis auf drei Ebenen wird nicht besser durch mehr soziale Kämpfe.
Lassen Sie uns zurückgehen in die Zukunft von gestern. Jedes erfolgreiche Modell hat eine Beharrungskraft. Es kann sein, dass es von der Gegenwart schon längst überholt ist, aber es ist immer noch da. Das Selbstbild und die operativen Strategien sind noch da. Sehen Sie das als Problem der Zeit?
Sie sprechen von der Beharrungskraft des Alten? Ich würde erst mal sagen, dass zur Zukunft der Vergangenheit nicht nur die ökonomische Seite gehört, sondern die Vergrößerung der Weltreichweite. Dazu gehört auch, würde ich mit Charles Taylor sagen, ein spirituelles Versprechen, dass wir frei sind, also ein Autonomieversprechen. Es ging auch darum, politische Freiheiten zu erringen. Das große Zukunftsversprechen der Vergangenheit war, und da zitiere ich immer Herbert Marcuse, Pazifizierung der Existenz.
Heißt?
Ich muss nicht mehr kämpfen, um zu überleben und kann mir frei von Angst ein Leben nach philosophischem, ästhetischem oder religiösem Sinn errichten. Das war ein stärkerer Zukunftshorizont als das Ökonomische. Das verkehrt sich nun. Von wegen Pazifizierung der Existenz, das Gegenteil ist eingetreten. Woran liegt das? Ich würde die Schuld da eher auf die strukturelle Seite schieben, also von Meloni bis zu Biden. Die wollen alle Wachstum und Forschung vorantreiben. Unser Steuersystem ist total überzogen, aber die Bundesregierung kippt die ganze Zeit blind Geld in die Forschung. Selbst die Jugendlichen wollen »Disruption«. Warum? Um der Disruption Willen. Das ist ein struktureller Zwang und der führt eben nicht zur Pazifizierung der Existenz, das merkt gerade jeder.
Warum also die Beharrung?
Erstmal ist sie auf der strukturellen Seite, da kommt man ohne Kapitalismusanalyse nicht weit. Aber es ist eben nicht nur Kapitalismus. Das ist ja auch so bei mir. Ich habe einen Studiengang, ich möchte, dass die Bewerberzahlen wachsen. Ich will vielleicht auch, dass mein Impact-Faktor wächst. Wir führen ein strukturell und kulturell verankertes Steigerungsspiel über parametrische Optimierung aller Lebensbereiche. Das geht mit dem Körper los. Es werden nicht mehr nur Blutdruck und Gewicht erfasst, sondern auch die Schrittzahlen und der Schlaf genau gemessen, und das jeden Tag. Im sozialen Bereich ist es das Gleiche: Wie viele Follower und Likes hat man? Wir führen unsere Leben heute im Sinne der parametrischen Optimierung. Die Zahl wird so wichtig, dass man nur noch versucht, sie zu steigern, und das dominiert uns kulturell. Es ist ganz schwierig, sich dieser Logik zu entziehen.
Das wäre ja Beharrung.
Das ist eine Form der Beharrung, aber digital verhärtet.
Es gibt zudem einen kulturell-geistigen Stillstand in liberalen Denkmilieus, die sich seit dreißig Jahren nicht mehr bewegt haben. Wir tun immer noch so, als wäre es 1989 und wir könnten die emanzipatorische, liberale, individualistische Superdemokratie in den letzten Winkel der Welt bringen, ohne irgendein Handwerkszeug dafür zu haben. Was sagen Sie dazu?
Ich fürchte, dass das stimmt. Nennen wir es mal linksliberal, und wir würden uns vermutlich auch alle dazurechnen, dann sehe ich da mittlerweile ein sicher wohlbegründetes Aggressionsverhältnis zur Vergangenheit auftreten. Alles, auf das wir mal stolz waren, die Aufklärung oder so, verstehen wir jetzt auch als eine Folge kolonialer Ausbeutung und imperialer Gewalt. Was ein linksliberales und damit auch mein eigenes Fortschrittsversprechen war, ist jetzt selbst zu einem bitteren Aggressionsverhältnis geworden. Nehmen Sie das auch so wahr?
Ich nehme das so wahr. Ich denke, der Fehler liegt darin, dass man das noch als linksliberal bezeichnet. Vieles von dem, was unter dieser Bezeichnung rumgeht, ist überhaupt nicht links, und liberal schon gar nicht, weil es ja repressiv ist. Es geht eigentlich um die Herstellung von Ungleichheit, indem es den Universalismus als Produkt eines kolonialen Liberalismus sieht.
Ja, gut, aber gerade viele junge Leute sind total motiviert, die wollen den Rassismus bekämpfen. Aber wenn man einen Schritt zurücktritt, um das Ganze zu betrachten, dann sieht man auf der, ich nenne es jetzt trotzdem mal so, »linken Seite« ein wachsendes Aggressionspotenzial. Die Statuen werden vom Sockel geholt, die Museen ausgeräumt. Da ändert sich etwas ins Negative. Einen Zukunftshorizont haben wir nicht mehr und die Vergangenheit und ihre Geschichte ist sehr fragwürdig. Da findet eine ideologische Verhärtung statt. Ich sage das auch immer meinen Studierenden: Vielleicht habt ihr zum Thema Gender oder Kolonialismus die richtigen Argumente, aber ihr verliert. Und ihr verliert gegen Meloni und Trump und das nicht wegen mir, sondern wegen der Mehrheiten. Wenn du nur Aggressionen auf die Vergangenheit und Zukunft und dich selbst anzubieten hast, dann gibt’s dafür keine Mehrheit und schon gar keine Herzen.
Die 68er, also die erste Generation bundesdeutscher Wokies hatten auch ein gewaltiges Aggressionspotenzial gegenüber der Mehrheitsgesellschaft und deren Vergangenheit.
Ja, aus guten Gründen, aber die 68er hatten noch den Traum einer besseren und freieren Welt. Das war der Traum, dass ein anderes Leben möglich ist. Ich behaupte immer, dass die Rockmusik damit ganz stark verknüpft war. Aber vielleicht geht es den Wokies von heute ja auch nur darum, dass weiße Männer, also wir, vorübergehend mal ruhig sein sollen.
Unser Thema ist jedenfalls: Wie kriegt man in der jetzigen Lage, auch politisch betrachtet, wieder einen Zugriff auf das, was eigentlich die Frage ist? Wer die Fragen von gestern stellt, kann definitiv keine Antworten für heute und morgen bekommen.
Gerade die Techno-Optimisten und die Neoliberalen sagen immer: Wir müssen radikal »disrupten«. Wir brauchen neue Technik für neue Probleme.
Den Disruptions- und Innovationsbegriff verkörpern Kulturheroen wie Elon Musk, aber die Konzepte sind ja uralt, also ich sehe da nichts Neues.
Im Blick auf politische Optionen ist das nicht viel anders. Ich glaube auch, dass man auf die Praxisebene schauen muss.
Welche Praktiken sehen Sie denn?
Auf der einen Seite erreicht das Frustrationslevel, auf der anderen Seite das Wutlevel neue Höhen. Die Gesundheit ist gerade bei jungen Menschen unter aller Sau. Ich sehe das auch als Teil der Autoaggression, wenn du in so eine Welt hineingeboren wirst. Du wirst so sozialisiert, dass du nur die Möglichkeit hast, mit einem Burn-out auszubrechen oder totaler Wutbürger zu werden, egal ob als Wokie oder AfDler. Was geht daraus hervor an neuen Praktiken? Erstmal natürlich eine Abkehr. Firmen und Unis beklagen, dass gerade die begabteren Menschen nicht mehr in die Spitzenpositionen wollen. Die wollen keine CEOs sein, die wollen nicht mal mehr viel verdienen, die wollen ein Leben neben dieser verrückt gewordenen Welt. Und wenn nicht die begabtesten in Wissenschaft und Politik gehen, wer geht dann dahin? Ich glaube diese Frage haben sich mit Liz Truss und Donald Trump auch beantwortet.
Nur wütend gegen die anderen sein, ist ein Rückfall in die vollkommene Binarität, es gibt nur null oder eins. Das verkörpert sich auch in populistischen Bewegungen und Politikerinnen.
Diese Binarität ist wie das Aktiv und Passiv, aus dem wir rauskommen müssen. In einem kleinen Buch über Religion beschreibe ich die Rettung, also Gnade, nicht durch etwas, was man tut. Sondern es geht um das Aufhören, mal für einen Moment innehalten in den sozialen Kämpfen. Man muss sich auch mal berühren lassen. Das ist eine Vision, die keine Machbarkeitsvision ist, zumindest nicht in erster Linie, denn das heißt nie, dass man die Hände in den Schoß legen kann. Deshalb ist mir der Begriff der Mediumpassivität auch wichtig.
»AM BESTEN IST DER TANZ DA, WO DU NICHT MEHR SAGEN KANNST, OB DU FÜHRST ODER GEFÜHRT WIRST.«
Hartmut Rosa
Mediumpassivität?
Ja, das klingt zwar blöd, aber es bedeutet, man ist zwischen passiv und aktiv. Ich glaube, ein Teil unseres kulturellen Problems liegt schon in der Sprache. Man kann sich nur als Täter oder Opfer begreifen. Ich werfe oder ich werde beworfen. Im Hebräischen und in Sanskrit gibt es ein Mittelding, also das »ich hatte einen Anteil an etwas«. In der Bibel heißt das: »Es begab sich zu der Zeit«, da kann man nicht sagen, wer Subjekt und wer Objekt ist. Andere protestieren dagegen und sagen: »Nee, da begab sich nichts, sondern einer hat es gemacht.«
Ein möglicher Ausweg liegt darin, mediumpassive Weltverhältnisse denkbar zu machen.
Was tue ich oder tue ich nicht, wenn ich mediumpassiv bin?
Tanzen ist das beste Beispiel für Resonanz. Wenn du Paartanz machst, führst du mal oder du wirst mal geführt, das ist eine feine Wechselwirkung. Und am besten ist der Tanz da, wo du nicht mehr sagen kannst, ob du führst oder geführt wirst. Dann ist der Tanz selber der »Agent«. In Jazzgruppen hast du das auch, da führt immer jemand anderes, und manchmal kann keiner mehr sagen, wer führt. Das sind mediumpassive Weltverhältnisse, und das schwebt mir vor als Vision, die ich entwickeln will. Es geht eben nicht um die sieben Schritte zur besseren Welt, denn ich fürchte, genau das versagt. Eine Sache, die ich an mir während der Pandemie beobachtet habe, aber auch an vielen anderen: zu gucken, was trägt in so einer Zeit noch als Resonanzachse? Bei mir war es eher die Natur als die Kunst und Musik. Rausgehen. Das war es. Im Wald, auf Bergen oder am Meer, das hat existenzialistische Züge. Aber auch da zieht sich ein Schleier drüber, denn diesen Sommer war es trocken und heiß. Das Hauptmerkmal der Gegenwart ist ontologische Unsicherheit oder Verunsicherung und die erreicht tiefste existenzielle Formen. Über diese umgebenden Realitäten musstest du früher nicht nachdenken. Es war ontologisch sicher, dass nach der Sonne der Schnee kommt.
Es gibt vielerorts keinen Schnee mehr.
Ja, jetzt macht uns alles Sorge. Tiefer kannst du ontologisch gar nicht mehr verunsichert werden.
Wie sieht denn nun die Geschichte einer anderen Zukunft aus, auf die Leute Lust haben können?
Selbst Leute, die weg wollen von einer Wohlstandsidee, die am ökonomischen Wachstum hängt, wollen trotzdem immer noch mehr Optionen und Fähigkeiten. Aber die Explosion an Möglichkeiten macht das Leben nicht besser. Ich wollte mit der Resonanz einen Begriff erfinden, der nicht auf Steigerung beruht. Wir brauchen eine Zukunftsgeschichte, die nicht quantifizierbare Steigerungen oder Intensivierungen meint, also eine andere Geschichte des gelingenden Lebens. Leben gelingt eben nicht über die Steigerung an einer Ressourcen-Basis, ob die ökonomisch oder sozial oder sonst was ist, sondern über die Fähigkeit der Weltanverwandlung – und die kann ich wirklich in der kleinen Hütte haben.
Das sagt sich leicht im ausgebauten Dachgeschoss.
Nein, hören Sie: Es geht um das Weltanverwandeln und darum, wirklich zu leben mit den Wänden um mich herum und den drei Büchern, die ich vielleicht habe. Die Welt da draußen und ich können dann vielleicht in eine mediumpassive Resonanzbeziehung geraten. Das macht Menschen glücklich. Und nicht, die Welt um sie herum zu erobern oder Ressourcen zu verwandeln. Diese Geschichte, die ich erzählen will, ist eine Gewinngeschichte.
Dieser Beitrag ist im Dezember 2022 in taz FUTURZWEI N°23 erschienen.