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Aus taz FUTURZWEI

Harald Welzer über neue Politik Machen!

Die Krisen neuen Typs wie Klimawandel und Pandemien sind nicht mehr durch soziales Aushandeln zu lösen wie in der Industriemoderne und auch nicht durch Symbolpolitik. Es braucht Anpassung. Es braucht Politik des Konkreten, wie sie Bürgermeisterinnen und Bürgermeister machen.

Foto: Erli Grünzweil/Connected Archives

Von HARALD WELZER

In der neuen FUTURZWEI-Ausgabe (ab 14.12.21 im Handel) sprechen wir endlich mal über Zuständigkeiten. Zuständigkeit, so definiert es das Gabler-Wirtschaftslexikon, »ist die notwendige Verbindung zwischen einer Aufgabe und der zu ihrer Wahrnehmung vorgesehenen Organisation«. Das setzt freilich voraus, dass für eine Aufgabe schon eine Organisation vorhanden ist, also eine Behörde, ein Ministerium, eine Verwaltung, ein Gericht. Die Geschichte moderner Gesellschaften läuft so, dass für neue Aufgaben neue Organisationen geschaffen werden – also etwa ein Umweltministerium, wenn »Umwelt« sich, wie vor einem halben Jahrhundert, nicht nur als Rohstofflager, sondern als Problem zu zeigen beginnt. Oder ein Digitalministerium, wenn deutlich wird, dass digitale Souveränität der Bürgerinnen und Bürger durch monopolistische Konzerne eher nicht angestrebt wird.

Harald Welzer ist Herausgeber von taz FUTURZWEI Foto: Ole Witt

So weit, so gut. Hat die letzten siebzig Jahre in der Bundesrepublik auch ordentlich funktioniert. Der Zeitraum zwischen dem Entstehen einer Aufgabe und der Etablierung einer Organisation zur Lösung dieser Aufgabe war offenbar nie zu lang; es herrschte also, mit einer Formulierung des Philosophen Odo Marquardts immer mehr »Nichtkrise als Krise«. Und dass das so bleiben konnte, lag wiederum auch an der Schaffung neuer Zuständigkeiten.

Das gilt für den Normalbetrieb. Was aber, wenn dieses im Großen und Ganzen moderat vor sich hin werkelnde und Vorlagen und Merkblätter produzierende Zuständigkeitsuniversum mit Krisen neuen Typs konfrontiert wird?

Ein Gegenüber, mit dem man nicht verhandeln kann

Krisen alten Typs waren seit der Industriemoderne immer dadurch gekennzeichnet, dass man sie durch Aushandlung lösen konnte. Denn die zentrale politische Frage seit der Industrialisierung war die soziale Frage, und in den westlichen Nachkriegsgesellschaften war man – nach den totalitären Experimenten faschistischen oder kommunistischen Typs – auf das Erfolgskonzept der sozialen Marktwirtschaft gekommen, die die soziale Frage ganz gut beantwortete. Ihre Stärke zeigt sich darin, dass Phasen der Massenarbeitslosigkeit genauso bewältigt werden konnten wie etwa die Finanzkrise oder auch eine gigantische Aufgabe wie die Wiedervereinigung. Der Haken dabei war allerdings, dass die im Prinzip immergleiche Antwort – nämlich wachsender Wohlstand für viele – auf einer wirtschaftlichen Strategie der folgenblinden Ausbeutung der Natur basierte. Erst die erlaubte das Versprechen, dass es bald allen besser gehen würde – und damit Aushandlung. Die Krisen neuen Typs, mit denen wir im 21. Jahrhundert konfrontiert sind, werden aber im Unterschied zu denen alten Typs durch ein Gegenüber bestimmt, mit dem man nicht verhandeln kann – ein Virus, ein Erdbeben, die Erderhitzung, das sechste Massen-Artenaussterben, in dem wir uns gerade befinden, zum Beispiel.

Das wachstumswirtschaftliche Rezept zur Lösung der sozialen Frage hatte, anders formuliert, immer die Externalisierung von Kosten zur Voraussetzung. Seit die Räume für die radikale Ausbeutung knapper werden, hat sich die Externalisierung mehr und mehr in die Zeit verlagert, in die ostentative Ausbeutung der Lebens- und Freiheitschancen der nächsten Generationen. Aber bevor genau an dieser Stelle die neue soziale Frage, nämlich die der Generationengerechtigkeit, politisch mächtig wird, tritt ein neues Gegenüber auf, das zwar in Gestalt von endlosen Feuern, grauenhaften Temperaturen oder unglaublichen Regenmengen die Mitteilung macht, dass die Zeit der Menschen womöglich an ein Ende kommt, darüber aber – zum Erstaunen der Politik – gar nicht mit sich reden lässt. Die Krise neuen Typs ist durch Einseitigkeit des Handelns gekennzeichnet; das neue Paradigma heißt Anpassen statt Aushandeln.

Das neue Paradigma in Handeln übersetzen

Und hier wird die Sache für taz FUTURZWEI interessant: Denn uns stellt sich die Frage, wer von den vorhandenen Zuständigen denn eigentlich am besten in der Lage ist, dieses neue Paradigma zu verstehen und vor allem: in Handeln zu übersetzen? Der spektakulär inhaltsfreie Bundestagswahlkampf 2021 lieferte deutliche Hinweise darauf, dass die Ebene der »großen Politik« im Angesicht neuer, unübersichtlicher und womöglich schwer zu bewältigender Problemlagen dazu tendiert, bei hergebrachten Strategien zu bleiben – die letzte Reformregierung, die Älteren erinnern sich noch, gab es in Deutschland unter Rot-Grün und das ist ein Vierteljahrhundert her. Seither werden keine Pfade mehr verlassen; man predigt Wachstum und Innovation und Technologieoffenheit und imaginiert sich als Fachkraft des Realen, obwohl die formulierten Ziele nur in der Fantasie erreichbar sind. Eine Klimapolitik, die nicht mal eine Geschwindigkeitsbegrenzung beschließen kann, ist eine Politik des Imaginären. Es fehlt der Halt der Wirklichkeit.

Zivilgesellschaftlich spiegelt sich das in unterschiedlichen Phänomenen – in der Wirklichkeitsverweigerung der besorgten Sprachbürgerinnen und -bürger, die sich zukünftige Rettung durch symbolische Kämpfe und Reinheitsvorstellungen versprechen und lieber heroisch vergangenen Kolonialismus bekämpfen als die Kolonisierung der Zukunft durch die Gegenwart für falsch zu halten. Oder in einem politischen Journalismus, der sich intensiv für die Interna des Betriebssystems Politik interessiert, darüber aber vergessen hat, dass die Politik Aufgaben hat, die mit Erfolg in Intrigen, Machtkämpfen und Worterfindungen nicht zu bewältigen sind. Das sind dann so materielle Dinge wie die Handlungsfähigkeit des Staates unter verschärftem Klimastress. Oder glaubt irgendjemand, es sei möglich, der nächsten und der übernächsten Flutkatastrophe zu begegnen, indem man wieder 30 Milliarden Euro oder so mobilisiert? Oder eine Außenpolitik zu betreiben, die einfach mal so tut, als hätten sich die geopolitischen Verhältnisse nicht durchaus radikal zu Ungunsten von Old Europe verändert? Fragen nach derlei Dingen hätten mich in Zeiten des Wahlkampfs schon interessiert, aber die Medien interessierten sich dann doch eher für die Söder-Laschet-Show. Oder so.

»Wir haben in Sachen Klimapolitik das erstaunliche Phänomen, dass Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeister am schnellsten und kreativsten auf die neue Definition des Politischen reagieren.«

Harald Welzer

Aber zum Glück gibt es ja nicht nur eine Politik des Imaginären, sondern auch des Konkreten, auf der Ebene der Städte und Gemeinden zum Beispiel. Hier lässt sich insbesondere in Sachen Klimapolitik das erstaunliche Phänomen verzeichnen, dass Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeister die politische Gruppe sind, die am schnellsten und kreativsten auf die neue Definition des Politischen reagieren: If Mayors Ruled the World: Dysfunctional Nations, Rising Cities hieß 2014 das wichtige Buch von Benjamin Barber, und in der Tat sehen wir in der Flüchtlingsfrage ebenso wie bei Mobilität und Klimaanpassung die Städte als die beweglichsten politischen Einheiten: Die prominentesten internationalen Beispiele liefern die verkehrspolitischen Umbauten von Kopenhagen, Paris und Barcelona, aber auch in Deutschland wird deutlich, dass vor Ort Politiken entworfen werden, die die ökologische Frage verstanden haben und praktische Antworten erproben.

Eine Politik des Konkreten

Ob das Karlsruhe ist, das schon seit 2013 einem »Klima-Masterplan« folgt und eine Kombinatorik unter anderem aus Dachbegrünung, neuen Wasserflächen und Trinkwasserbrunnen entwickelt, oder Berlin, das sich immerhin zur »Schwammstadt« umzuerfinden versucht, oder Leipzig, das Naturwald im Stadtgebiet neu anlegt oder Mannheim, das aus einem ehemaligen Militärgelände einen 220 Hektar großen Grünzug entwickelt, der ökologisch aufgewertet wird und bis in die Innenstadt reicht. Die Beispiele sind zahllos, zeigen aber, dass die Musik jenseits der großen Diskurse spielt: Während auf der Metaebene des Politischen eher wolkig von »Dekarbonisierung« geträumt und Ziele gesetzt und bei Bedarf verschoben werden, weil niemand heute Verantwortlicher sich 2050 für deren Nichterreichen verantworten muss, stellen sich die Zukunftsprobleme vor Ort und müssen auch dort bewältigt werden. Genauer gesagt: Dort sind sie keine Zukunftsprobleme, sondern solche der Gegenwart, und exakt so werden sie angegangen. Wenn es gut läuft.

Und manchmal ist es schwierig, weil es Proteste vor Ort gibt oder kein Geld oder politische Gegenspieler. Heißt: Wo es konkret wird, wird es auch immer ambivalent, weil die allermeisten Probleme die doofe Eigenschaft haben, mehrere Seiten zu haben. Aber gerade das liefert die Chance auf unkonventionelle Bündnisse und unerwartete Lösungen. Und auch zur Öffnung des politischen Raums: Denn das Konkrete steht in einem wohltuenden Kontrast zur Hysterisierung, Moralisierung und Personalisierung, mit denen man kostenlos, gedankenfrei und bequem Punkte in der Eigengruppe sammeln kann. Eigengruppen, das können Parteien genauso sein wie Deutungseliten oder Diskurswächterinnen und -wächter, deren Argumente und Entscheidungen viel weniger rechenschaftspflichtig und belastbar sein müssen als vor Ort, wo man was machen und sich dafür legitimieren muss.

Zurück zum Anfang: Im 21. Jahrhundert stellt die ökologische Frage eine neue Aufgabe mit neuen Zuständigkeiten, und ihre Bewältigung erfordert die Loslösung von den alten Lösungen, braucht Visionen und Aufbrüche. Paradoxerweise brauchen Visionen heute aber gerade die Erdung durch die Konfrontationen und Ambivalenzen, die sich am Ort, am Gegenstand, mit den Leuten stellen. Und genau hier eröffnet sich auch den Medien die Chance, die konstruktiven Tendenzen der Gegenwart zu erspüren und zu beschreiben, anstatt Diskurslandschaften zu analysieren, die wenig zur Beantwortung der nicht trivialen Frage beitragen, wie wir durch das 21. Jahrhundert kommen können.

Dieser Beitrag ist in taz FUTURZWEI N°19 erschienen.