Hadern mit dem Eigenen

„Hätte ich einen anderen Körper bekommen, ich wäre gern Tänzer geworden“: Ein Porträt des Performers und Schauspielers Bruno Cathomas, der die Bühne auch zur Selbsterforschung nutzt

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Er leidet so furchtbar. Sein Körper quält ihn, er schleppt ihn mit wie ein Stück widerborstige Natur. Fast überall, wo Bruno Cathomas in den letzten zwei, drei Jahren auf der Bühne auftauchte, war er bald schweißgebadet in seinem schwarzen Anzug und gepeinigt vom Drang zu pinkeln. Als ob ihm die Rollen in alle Zellen seines Körpers kriechen würde, seinen Stoffwechsel umbauten und eine eigene Chemiefabrik in seinem Inneren erzeugten.

Er war Woyzeck, der Erbsen essen und in Becher pissen musste, Prügelknabe für Aufsteiger und Deklassierte, in Thomas Ostermeiers Regie an der Berliner Schaubühne. Er war Gunter aus Bleibach in „Wilde – der Mann mit den traurigen Augen“, von Sebastian Nübling in Hannover inszeniert: ein reisender Arzt, der nicht mehr nach Hause findet, den Koffer voller blutiger Verbände. Da wirkte er wie ein heimwehkrankes Kind, eingeschlossen in einen viel zu großen Körper. Irgendwann macht er sich in die Hosen aus Not, weil er zwischen den vielen Türen der Schließfächer auf einem Bahnhof nicht die eine zum Klo finden kann. Auch sein „Johann“ in „Das Kalte Kind“ stellte die Bedürftigkeit seines Körpers aus, wie übrigens alle in der Inszenierung von Luk Perceval.

Aber bei Bruno Cathomas scheint seine physische Präsenz stets mehr als ein Ergebnis der Regie. Er ist in fast jeder Rolle auf der Bühne auch ein Performer, der seine eigenen Lebensthemen bearbeitet. Nicht unabhängig vom Text, nicht gegen das Stück, aber beide doch als Material in das große Labor der Selbsterforschung einspeisend.

„Ich glaube, dass jeder ernst zu nehmende Künstler sich an einem Thema abarbeiten muss“, sagt Bruno Cathomas. „Bei mir hat es viel mit meinen geistigen und körperlichen Komplexen zu tun, die ich sozusagen in den Rollen verarbeite. Hätte ich einen anderen Körper bekommen, wäre ich gerne Tänzer geworden. Es ist komisch, dass ich über die Sprache, die ich nicht wirklich bewältige, zum Theater gekommen bin und über die Komplexe immer mehr zu meiner Spielform gefunden habe. Ich empfinde die Entwicklung einer Figur ähnlich wie ein Bild zu malen. Den Bildträger bilden die Geschichte und Regie – und da trägt man seine eigenen Farben auf.“

Seine Bilder sind von einer großen Transparenz und Vielschichtigkeit. Der Performer und seine Rolle stehen in einem spannungsvollen Verhältnis, beobachten und kommentieren sich und gehen bei der Findung der Identität auch schon mal auf Konfrontationskurs. Diese Widerspenstigkeit, dieses Hadern mit dem Eigenen, kommt seinen Figuren oft zugute. Denn fast immer gibt es in den Stücken die Figur einer Frau, die da noch etwas anderes in ihm spürt und unter seiner zerfallenden Oberfläche nach einem sicheren Ort für sich selber sucht. Sein Körper, eben noch wie ein Stigma des Ungeschicks vorgeführt, wird dann zu einem großzügigen und weitherzigen Ort.

Seit 14 Jahren lebt der Schauspieler, der aus dem Schweiz kommt, in Deutschland. Neben Berlin spielt er in Basel und Hannover Theater und hat für Kinofilme mit Detlev Buck und Didi Danquart zusammengearbeitet. Die Schweiz ist noch immer gegenwärtig in seinem Sprachgedächtnis, ihre anderen Bilder, ihre Langsamkeit. Immer ist ein wenig Fremdheit in seinem Umgang mit der Sprache zu spüren, ein Angehen gegen Widerstand. Sie ist sein Mittel nicht; oder doch gerade das, was ihn zurück zu seinem Körper gebracht hat.

„Als wir an ‚Wilde – der Mann mit den traurigen Augen‘ probten, sah ich mich auf einmal auch im Privaten rumstammeln und verwirrt werden. Das ist ja auch logisch, für die Proben einer Hauptrolle macht man das acht Stunden pro Tag. Bei „Shoppen & Ficken“ brauche ich hinterher anderthalb Stunden, um wieder ich selber zu sein, ich habe so viel Adrenalin in meinem Körper vom Spielen und das Gefühl, ich könnte die ganze Stadt durchficken, aggressive Allmachtsfantasien.“

Dennoch liebt er das Proben so sehr, die Unmittelbarkeit des Spiels und die Möglichkeit, eine Rolle von innen und von außen zu betrachten, dass er aus diesem Interesse ein eigenes Projekt am Gorki Theater gestartet hat: eine Schauspiel-Factory mit öffentlichen Proben. Dass es um das Erzählen als Grundlage des Schauspiels gehen sollte, war das erste Motiv. Ein Stoff fehlte aber noch.

Dann ging es ihm im Leben wie in einer seiner Rollen: Ausgerechnet beim Pinkeln und schon betrunken, erzählt Bruno Cathomas, sei er dann auf die Bibel gestoßen, mit deren Seiten die Wände eines Kneipenklos beklebt waren. „Da ist mir wie ein Blitz, als wäre mir ein Apfel vom Baum der Erkenntnis auf den Kopf gefallen, aufgegangen: Das ist der ideale Stoff. Da sind die Geschichten der Menschheit drin: das erste Mal Liebe, das erste Mal Mord, das erste Mal Gesetz. Warum soll ich das nicht als Thema nehmen.“ So war das Material gefunden für sein Projekt der Erforschung des Erzählens, das gestern im Studio des Gorki Theaters mit Teil 1, „Die Schöpfung“, begann. Alle 14 Tage kommt eine neue Folge heraus.

An Teil 2, „Law and Order“, wird schon geprobt. Halbe Schulklassen sitzen auf den Bänken im engen Gorki Studio, Lustiges wird erwartet, ein bisschen Event und Kult rund um die Bibel. Lustig wird es auch gleich, als eine Schallplatte ins Spiel kommt, die an Stelle der Gesetzestafeln mit den Zehn Geboten eine ordnende Funktion übernimmt. Per Hand wird sie vor und zurück bewegt, im Chor singen die Schauspieler vorwärts und rückwärts, schnell und langsam den Gospel-Song, der von der Befreiung aus Ägypten erzählt. Dann aber wird in dem Spaß die Arbeit sichtbar, das lange Festhaken an einer Stelle, wenn sich, was und vor allem wie erzählt wird, erst langsam aus einer Fülle von Einfällen herausschält, Verzweigungen ausprobiert und wieder gestrichen werden. Was Cathomas’ eigenes Spielen zuletzt in „Electronic City“ so stark machte, das Switchen zwischen dem Innen und Außen der Rollen, wird in den Proben der fünf jungen Schauspieler zur Strategie. Den expressiven, hochdramatischen Klagen einer Mutter, der die biblischen Plagen die Familie zerstörten, folgt eine ästhetische Diskussion über den Hyperrealismus und da hinein schiebt sich, unmerklich erst, unheimlich ein Monolog über die Heuschreckenplage, der subtil und gemein alle Lüste des Horrorfilms wachruft. „Play on, play off“, das Springen von einem in den anderen Zustand, verlangt von den Schauspielern Hochleistung.

„Liebe deinen Schauspieler wie dich selbst“, gibt Cathomas als Erstes Gebot an die Besucher der Probe aus. Als ob wir das nicht immer schon täten, in dem Moment, in dem das Spiel beginnt.

„Die Bibel: I Schöpfung“, Gorki Studio, 8., 9., 14., 15. + 16. Oktober, 20.30 Uhr