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Archiv-Artikel

HEUTE BEGINNT DER ZWEITE PROZESS WEGEN DES 11. SEPTEMBER Im Zweifel für den Angeklagten?

Zuerst die gute Nachricht: Die Hysterie in Deutschland hat sich nach dem 11. September in Grenzen gehalten. Gewiss will sich hierzulande niemand im Kampf gegen den islamistischen Terror eine Blöße geben – doch wenn man die Lage mit der RAF-Hysterie in den 70er- und 80er-Jahren vergleicht, ist der Unterschied unübersehbar. Rechtsstaatlich bedenklich wird es allerdings, wenn es direkt um die Anschläge auf das World Trade Center geht – wie beim Prozess gegen Abdelghani Mzoudi, der heute in Hamburg beginnt.

Die Lage ist also widersprüchlich. So ordnet Generalbundesanwalt Kay Nehm immer wieder Durchsuchungen von vermeintlichen islamistischen Zentren und von Privatwohnungen an. Doch meist werden die Betroffenen gleich wieder freigelassen, weil es keinen dringenden Tatverdacht gibt. So beantragte Nehm nach langem Zögern doch noch einen Haftbefehl gegen den Deutschpolen Christian G., der derzeit in Paris inhaftiert ist. Er soll vom Anschlag auf die Synagoge in Djerba gewusst haben und noch heute Al-Qaida-Unterstützer sein. Der Bundesgerichtshof lehnte den Erlass eines Haftbefehls ab, die Beweislage sei zu schwach. Kay Nehm will offenkundig vor allem zeigen, dass „wir etwas tun“. Dass die Dinge anschließend ihren rechtsstaatlichen Gang gehen und relativ wenig dabei herauskommt, ist ihm vermutlich sogar recht. Nehm ist keiner, der gern Unschuldige opfert.

Doch Nehm steht unter Handlungsdruck – vor allem aus dem Bundeskriminalamt, das schon vor dem 11. 9. gern stärker gegen die Islamistenszene ermittelt hätte und von Nehms Bestehen auf rechtsstaatlichen Hürden blockiert wurde.

Nehms Anklagen gegen die vermeintlichen Terrorhelfer al-Motassadeq, der im Februar zu 15 Jahren Haft verurteilt wurde, und Mzoudi waren und sind nicht zwingend. Letztlich geht es um kaum mehr als um Kontakte, Freundschaften und kleinere Hilfsdienste. Dass die Angeklagten von den Anschlagsplänen wirklich wussten, ist unbewiesen, es wird mehr oder weniger unterstellt. Wer in diesen Kreisen verkehrt, so die Botschaft, für den gilt die Unschuldsvermutung offenbar nur eingeschränkt.

Warum aber greifen in Hamburg die rechtsstaatlichen Sicherungen nicht, die sonst noch halbwegs zu funktionieren scheinen? Eine mögliche Antwort: Dies sind die ersten Prozesse wegen des 11. 9. Die Weltöffentlichkeit schaut zu. Ein gut begründeter Freispruch würde vielleicht noch in Deutschland verstanden werden, aber nicht mehr in Washington und New York. Die Hamburger Richter sind unabhängig. Aber sie spüren die politische Bedeutung ihres Urteils. CHRISTIAN RATH