HARTE URTEILE IM „FALL JESSICA“ VERHINDERN KÜNFTIGE VERBRECHEN NICHT : Die Austreibung des Bösen
Gerichtsverhandlungen über Kindesmisshandlungen sind immer auch exorzistische Rituale: Es gilt, das Böse kontrollierbar zu machen. Das Gerichtsurteil ist der Abschluss, auch dazu da, das Publikum mit einem Gefühl der Sicherheit in die Welt zu entlassen. Doch im „Fall Jessica“ ist so ein Abschluss nicht möglich. Daran ändern auch die gestern ausgesprochenen harten Urteile des Hamburger Landgerichts nichts.
Sowohl die Mutter als auch der Vater von Jessica wurden des Mordes für schuldig befunden und zu lebenslanger Haft verurteilt. Für viele mag das Urteil befriedigend sein, sind sie doch müde der Erklärungen psychologischer Gutachter, die schwerster Verbrechen Angeklagten eine harte Kindheit attestieren und so die Frage der Schuld abzumildern scheinen. Auch die Erkenntnis, dass sämtliche Mechanismen staatlicher Fürsorge bei Jessica versagt haben, hinderte das Gericht nicht daran, beide Elternteile voll in die Verantwortung zu nehmen. Doch der Bruch mit Sicherheiten, den der Fall Jessica aufdeckte, wird trotzdem bleiben. Bei der verurteilten Mutter handelte es sich in vielen Lebensbereichen um eine unauffällige Frau aus dem so genannten Unterschichtmilieu. Erst die Anforderungen der Mutterschaft weckten in ihr die Erinnerungen an die eigene schreckliche Kindheit, sodass sie selbst ihrer eigenen Tochter nur Böses antun konnte. Die Elternschaft bringt nicht nur das Beste, sondern auch das Schlimmste in einem Menschen hervor. Wenn ein Fall Jessica möglich war, wird auch noch vieles andere möglich sein – mag man es als nacktes Verbrechen, Wahnsinn oder Milieuschädigung etikettieren.
Die neue telefonische Hotline in Hamburg, bei der sich besorgte Nachbarn melden können, wenn sie Eltern im Verdacht haben, ihr Kind zu misshandeln, ist deshalb zwar von der Idee her gut. Sie könnte aber auch Denunziation und Misstrauen fördern und so die Isolation gefährdeter Väter und Mütter noch vergrößern. Das aber wäre kontraproduktiv. Denn das Böse ereignet sich immer unter uns, inmitten der Gesellschaft – und sieht nur immer etwas anders aus. BARBARA DRIBBUSCH