HAMBURGER SZENE VON LISA FRANKENBERGER : Wilder Westen im Eis
Ich habe es geschafft. Nach mehreren uneleganten Ausrutschern und einem Beinahe-Absturz habe ich endlich wieder festen Boden unter den Füßen. Irgendein fleißiger Mitbürger hat neben seinem Haus geräumt, den obligatorischen halben Meter wenigstens. Jetzt nur nicht nach rechts treten, da ist’s vorbei mit der Sicherheit, lauert wieder die gefährlich Glätte. Nicht weiter weg von der Wand als nötig, hebe ich endlich wieder den Blick vom Untergrund und blicke nach vorne. Da seh ich sie. Eine ältere Dame kommt auf mich zu. Auf meinem Stück Weg.
Auch sie blickt auf. Obwohl es dunkel ist und sie noach nicht mal so nah, spüre ich einen eisigen Blick. Entschlossen rücke ich wieder näher an die Wand. Jetzt sehe ich ihr Gesicht genauer: Die Augen der Dame sind zu Schlitzen verengt.
Ich ziehe die Hände aus den Manteltaschen. Wären wir im wilden Westen, dann hätte ich jetzt vielleicht zwei Pistolen in der Hand – und ja, ich würde das unliebsame Hinternis wohl einfach aus dem Weg räumen. Aber meine Hände sind leer und allenfalls hilfreich dabei, wollte ich einen eventuellen Sturz abfangen.
Die Luft ist zum Zerschneiden gespannt. Ich halte nicht an, ich blicke nicht weg. Fest entschlossen schreite ich voran. Gleich werden wir aneinander stoßen. Jetzt kommt’s drauf an: Wer hat die stärkeren Nerven. Ein entschlossener Blick, der letzte vielleicht,nur noch Zentimeter zwischen uns – und tatsächlich: Sie weicht aus.
Während ich innerlich triumphiere und mich zu meiner Entschlossenheit beglückwünsche belegt sie mich im Vorbeischlittern mit einem unverständlichen Fluch.