Grüne im Osten: „Ich hab den ja gewählt“

Grüne kriegen im Osten keine Stimmen, sondern wecken nur Aggressionen. Wie konnte dann Stefan Fassbinder Oberbürgermeister von Greifswald werden?

Stefan Fassbinder, grüner Oberbürgermeister von Greifswald Foto: Dan Petermann

Von ARON BOKS

In »Werni’s Kneipe« in Greifswald fühle ich mich wie im Harzer Nachtleben meiner Jugend. Die Luft ist zum Schneiden, überall wird geraucht, es gibt Hasseröder und Gespräche über Politik laufen so:

»Über so 'ne Scheiße reden wir hier nicht!«, schreit jemand vom Tresen.

»Du bist doch nicht etwa n' Grüner, oder?«, bellt der Wirt. »Oder jemand der sich festklebt?«

Eigentlich bin ich nur hier, um etwas zu trinken, nachdem ich mir den gerade wiedergewählten Oberbürgermeister der Stadt angeschaut habe. Der ist im Gegensatz zu mir wirklich ein Grüner.

Doch der Reihe nach.

Es ist Vormittag, die Sonne scheint gegen die bunten Hansestadthäuser, und ich bin in der Nähe des Rathauses mit Stefan Fassbinder zum Fahrradfahren verabredet.

Seltsam, egal ob in Plattenbauregionen, Fußgängerzonen oder im Hafen der Stadt: Überall wird uns fröhlich zugelächelt oder gewinkt. Was für mich in Begleitung eines Grünen-Politikers im Osten extrem erstaunlich wirkt, scheint für Fassbinder Alltag. Immer wieder hebt er leicht den Kopf, lächelt freundlich und grüßt zurück.

Stumm, ohne affektiert kommunalpolitisches »Aaach, hallo!«, zurückgenommen wie sein sonstiges Äußeres – schlichte Brille, grau glänzender Achttagebart, Fahrradhelm.

Um das gleich abzuräumen: Ja, der Mann ist tatsächlich mit dem verstorbenen Filmemacher Rainer Werner Fassbinder verwandt. Irgendwie. Er ist ein Cousin, dritten Grades, hat ihn aber nie kennengelernt. Ich erfahre das beim Mittagessen in einem neuen mediterranen Bistro in der Stadt. Und dazu zwei Dinge, die mich als Ostler überraschen: 1. Stefan Fassbinder ist kein Vegetarier. 2. Die Frage, wie es möglich sein kann, als Grünen-Politiker im Osten Erfolg zu haben, umschifft er nicht – stattdessen lächelt er fast dankbar, mich nicht weiter in Illusionen schweben zu lassen: »Ich wurde gewählt, weil ich nicht nur als Grünen-Bürgermeister angetreten bin«, sagt er.

Die Grünen müssen Volkspartei werden wollen

Fassbinder lebt seit 23 Jahren in der Stadt, in die er als Historiker aus Paderborn hergezogen ist, um hier das Pommersche Landesmuseum zu leiten. Er kennt Greifswald. Und wenn er sagt, kein Grünen-Bürgermeister zu sein, dann spricht er von dem Parteienbündnis aus SPD, Linkspartei und Tierschutzpartei, das neben seiner Partei hinter ihm steht. Trotzdem ist er ein Grüner. Und im Osten reicht allein das schon, um prinzipiell auf Ablehnung zu stoßen. Was ist also sein Geheimrezept?

Darüber spreche ich im Laufe des Tages mit Lorenz Brockmann im Videochat. Er ist Grünen-Mitglied, Rhetorikcoach in Tübingen, Wahlkampfstratege von Fassbinder, aber auch von Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer – und zudem Autor des Buches Wie man eine Wahl gewinnt. Das ist bekanntlich für Grüne jenseits von Baden-Württemberg weiterhin oft ein großes Rätsel, sie gewinnen zwar derzeit Prozente, aber selten Wahlen.

Brockmann sagt, dass Fassbinder mit seinen Ankündigungen, Studierende mit mehr Bildungsmöglichkeiten und Kultur, alte Menschen mit Quartiersmanagement und Familien mit neuen Wohnprojekten zu versorgen, klassisch grünen Wahlkampffehlern vorbeuge. Fassbinder hebe Themen hervor, die erst mal nicht klassisch grün aussähen und gerade deswegen »Gewinnerthemen« seien. Mit seinem Hemd, den schlicht gekämmten Haaren und der dickrandigen Brille sieht Brockmann aus wie ein Start-up-Unternehmer, wirkt aber fast wie ein engagierter Fußballtrainer, wenn er über immer wieder vorkommende Fehler seiner Partei in Wahlkämpfen spricht. »Man kann Politik erst gestalten, wenn man die Wahl gewonnen hat. Das funktioniert aber nicht, wenn man sofort von grünen Lieblingsthemen wie Tempolimit, dem Veggie-Day oder der Legalisierung von Cannabis spricht«, sagt er.

Um ernsthafte Politik gegen die Klimakrise machen zu können, braucht es gesellschaftliche Mehrheiten, und so gesehen müssen die Grünen ja Volkspartei werden wollen. Nur klingt das in nahezu jedem ostdeutschen Ort wie ein ganz schlechter Scherz. Wer zum Beispiel im ländlichen Raum um Magdeburg ernsthaft mit einem Grünen-Flyer Häuserwahlkampf betreibt, könnte auch gleich ein Shirt des Halleschen FC tragen. Das Aggressionspotenzial wäre laut Brockmann das Gleiche:

»Eigentlich ist es egal, wo ein Wahlkampf stattfindet. Ob in Tübingen oder Greifswald, Kamerun oder München. Man muss sich als Grüner überparteilich aufstellen. Und dabei vor allem nicht grasgrün wirken. Boris Palmer, aber auch die anderen zwei Oberbürgermeister in Baden-Württemberg, sind ganz klar Grüne, aber ihre Kampagnen waren nicht grün. Und sie haben sich auch nicht als Grüne dargestellt, genauso wenig wie Stefan Fassbinder. Und damit haben alle gewonnen.«

Keine junge Person, die ihn nicht toll findet: OB Fassbinder (r.) im Gespräch Foto: Dan Petermann

Die Grünen sprechen vielerorts noch nicht die Sprache der Leute

Wenn man Fassbinders Website aufruft, springt einem sofort ein »Verlässlich. Sozial. Nachhaltig« entgegen. Dazu der Hinweis auf sein stabiles linksliberales Parteienbündnis. Wenn man ihn wählte, wählte man also vor allem niemand von der AfD, PARTEI, Basis oder FDP. Und auch niemand von der CDU – wie die 44 Prozent, die Fassbinders Herausforderin Madeleine Tolani in der Stichwahl gewählt haben. Das einzig rein Grüne ist auf den ersten Blick der »Home«-Button und der Schriftzug »Deine Stimme für deine Stadt«. Außerdem kommt in seinem Wahlprogramm das superbeliebte Grünen-Wort »müssen« fast nicht vor; mal abgesehen von einem Abschnitt, in dem er davon spricht, »Maßnahmen ergreifen zu müssen«, da Greifswald bis 2035 klimaneutral gemacht werden »muss«. Aber gegen den Schreck gibt es beim Weiterblättern gleich die Aussicht, bald eine digitale Stadtverwaltung, mehr Arbeit und über 1.000 neue Schullaptops in Greifswald erwarten zu dürfen.

»Die Grünen sprechen in den ländlichen Gegenden vielerorts noch nicht die Sprache der Leute und kennen ihre Sorgen und Ängste nicht«, sagt Brockmann. »Deswegen haben wir derzeit nur elf grüne Oberbürgermeister in ganz Deutschland.«

»Und nur einen im Osten«, sage ich. »Die Grünen gelten doch hier als Verbotspartei.« »Das ist ein Image, das den Grünen überall irgendwie anhaftet, was sie manchmal sehr unglücklich auch bedienen«, sagte Brockmann. »Und das machen sich andere Parteien überall zunutze. Alle sind sich darüber im Klaren, dass eine positive Zukunft nur mit Verzicht funktioniert. Die Frage ist, wie man das positiv rüberbringt.«

Nach dem Mittagessen folge ich Fassbinder weiter mit dem Rad. Wir fahren an einem Spielplatz und zwei sanierten Kitas vorbei, in denen bald jeden Tag frisch gekocht werden soll. Fassbinder ist selbst Vater von vier Kindern im Alter zwischen 23 und 17. Dieses Wahlversprechen sei eine Herzensangelegenheit, sagt er. Und ein Gewinnerthema, denke ich. Klingt doch viel besser, als gleich zu betonen, dass es hier bald keine Bratwurst mehr geben wird.

Wir halten kurz an einem Ufer des Greifswalder Flusses Ryck – Fassbinders Lieblingsplatz auf dem täglichen Arbeitsweg. Als er mir gerade ein Fischrestaurant um die Ecke empfehlen will, fährt ein Typ Anfang zwanzig an uns vorbei, der die Hand zur Faust geballt in den Himmel reckt. »STEFAN!«, brüllt er, und Fassbinder winkt ihm hinterher.

»Das mit den Grünen funktioniert hier im Osten nicht«

»Kennen Sie den?«, frage ich.

»Nö, aber viele junge Leute finden mich ganz gut …«

»Ganz gut« ist ein bisschen untertrieben, denke ich. Sei es in Greifswalder Bars, Cafés oder im Regionalzug Richtung Stralsund; sei es, weil er offenbar aus eigener Tasche Geld in die Kultur der Stadt steckt, das hiesige Strandbad kostenfrei zugänglich und das Bildungsangebot facettenreicher macht – es war zumindest mir in Greifswald so gut wie unmöglich, irgendeine junge Person zu finden, die Fassbinder nicht mindestens toll findet. Und ich habe mich mehrere Tage umgehört.

Aber auch, wenn die die rund 10.000 Studierenden bei einer sehr niedrigen Wahlbeteiligung von 35 Prozent sehr wichtig für seinen Sieg waren, muss es in einer Stadt mit rund 47.000 Wahlberechtigten auch noch andere geben. Und es gibt sie natürlich auch in Greifswald. Die Grünen-Skeptiker aus Prinzip.

»Die wollen das Auto verbieten ...«: OB Fassbinder auf Dienstfahrt Foto: Dan Petermann

In »Werni’s Kneipe« kommt kurz vor meiner Abreise ein neues Bier. Inzwischen rede ich mit Riko und Thomas, zwei rauchende Typen um die vierzig in Tanktop und Metallica-Shirt. Riko ist als wohl einziger im Raum im Juni zur Bürgermeisterwahl gegangen.

»Du kennst den Osten … das mit den Grünen funktioniert hier nicht!«, sagt er und trinkt. »Die wollen das Auto verbieten und Atomkraftwerke abstellen … Ich frage mich, wie wir hier von A nach B fahren und wo wir dann den Strom herbekommen sollen! Und die wollen uns aus ihren Großstädten erzählen, wie wir hier leben sollen. Ist doch Blödsinn!«

Bevor ich was sagen kann, wedelt Riko seine linke Hand durch die Luft. »Aber der Fassbinder, der ist anders!«

»Find ich nicht!«, brummelt Thomas neben ihm. »Der ist genauso …«

»Ich hab den ja gewählt«, sagt Riko.

»Echt?«

Das ist jetzt eine überraschende Wendung, nicht nur für Thomas.

Familienfreundlich und bürgernah

»Joa … der ist familienfreundlich. Meinen Kleinen kann ich problemlos inne Kita schicken, das ist super! Und der ist bürgernah … Die Gegnerin, diese Tolani, die habe ich nicht einmal in der Stadt gesehen.«

Eine Getränkerunde später erzähle ich den beiden von meinem Tag in Greifswald und davon, wie ich am Ufer des Rycks war.

»Nee, oder?«, ruft Thomas plötzlich. »Da warst du mit Fassbinder?«

»Ja, wieso?«, frage ich.

»Das mit den Grünen funktioniert hier nicht, Junge«: OB Fassbinder in seinem Büro Foto: Dan Petermann

»Dann stimmt es ja, was er der Zeitung erzählt!«, sagt Thomas und wird plötzlich ganz euphorisch. »Der sagt, dass er da immer vorbeifährt und auf das Wasser schaut … dann stimmt das ja doch!«

»Ja, schätze schon.«

»Stefan Fassbinder!«, raunt Thomas und nippt an seinem Bier.

»Sag ich doch«, brummt Riko zufrieden.

»Glaubst du, dass die Grünen im Osten vielleicht doch eine Chance haben könnten?«, frage ich ihn.

»Junge!«, sagt er und schüttelt den Kopf. »Hast du mir die ganze Zeit nicht zugehört?«

Doch, habe ich. Aber irgendwie finde ich die Idee nach einem Tag mit Stefan Fassbinder gar nicht mehr so abwegig.

Dieser Beitrag ist im September 2022 in taz FUTURZWEI N°22 erschienen.

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