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Gorbatschow prangert träge Gewerkschaften an

■ Formalistisches Denken, Papierkrieg und Vetternwirtschaft überwinden / Gewerkschaften behinderten Reformpläne der Führung Sie sollen Gegengewicht zu technokratischen Tendenzen in der Wirtschaft bilden / Gorbatschow wich mehrmals vom Redetext ab

Moskau (afp/dpa) - Scharfe Kritik an den sowjetischen Gewerkschaften hat Parteichef Michail Gorbatschow am Mittwoch vor den Delegierten des Gewerkschaftskongresses geübt. In seiner einstündigen Rede warf er den Gewerkschaften vor, sie würden nicht nur die Interessen der Werktätigen unzureichend vertreten, sondern darüber hinaus auch die Durchsetzung der Reformpolitik des Kremls verzögern. Außerdem hinkten sie den Erfordernissen der eingeleiteten Neuordnung der Sowjetgesellschaft (Perestroika) hinterher. Dies treffe insbesondere für die Verteidigung der Interessen der Werktätigen und der sozialen Gerechtigkeit zu. Die Arbeiterorganisationen müßten ihre Kampfkraft stärken sowie formalistisches Denken, Papierkrieg und „Vetternwirtschaft“ über winden. Gorbatschow forderte die Gewerkschaften auf, sie und den sozialen Aspekt ökonomischer Entscheidungen betonen. Dazu gehöre die aktive Mitbeteiligung bei der Ausarbeitung der Pläne und neuen Vorhaben, die bis hin zur Vorlage „alternativer Vorstellungen“ gehen könne. Die Gewerkschaften sollten daher „energischer von den Rechten Gebrauch machen, die ihnen zustehen“. In seiner Rede bestätigte Gorbatschow auch, daß das jüngste Plenum des Zentralkomitees der KPdSU im vergangenen Januar dreimal verschoben wurde. Die Vorbereitung des Plenums sei eine „schwierige Sache“ gewesen. Man habe es jedoch nicht einberufen können, ohne Klarheit in allen wichtigen Fragen erzielt zu haben. Der KPdSU–Generalsekretär wich mehrmals von seinem vorbereiteten Redetext ab. So sagte Gorbatschow, daß bei einigen die Frage entstehen könne, ob „wir die Gesellschaft durch die Ausweitung der Demokratie nicht desorganisieren, die Führung schwächen und die Anforderungen an Disziplin, Ordnung und Verantwortung herabsetzen“. In Abweichung vom Redetext erklärte er dann: „Wer diese Frage aufwirft, leidet offentlichtlich an einem ernsthaften Mangel. Er glaubt nicht an unser Volk.“ Gorbatschow erklärte, das Schwierigste stehe noch bevor. Man habe jetzt die „Ausgangspositionen“ festgelegt. Die positiven Veränderungen seien bisher auch noch zu keiner „stabilen Tendenz“ der wirtschaftlichen Entwicklung geworden. Die UdSSR brauche jetzt solche „starken Formen der Demokratie“ wie Öffentlichkeit, Kritik und Selbstkritik. Vom Text abweichend betonte Gorbatschow, dies sei notwendig für die Realisierung „radikaler Veränderungen in allen Bereichen des Lebens unserer sozialistischen Gesellschaft“. „Das ist eine Garantie dafür, daß Fehler der Vergangenheit nicht wiederholt werden.“ Im internationalen Teil der Rede warf er dem „Imperialismus“ und den „reaktionären Kräften“ vor, sie wollten „um jeden Preis“ die UdSSR an der Verwirklichung des eingeschlagenen Kurses hindern und die militärische Konfrontation aufrechterhalten“.

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