Gesucht: Sozialökologische Partei Deutschlands: Kann die SPD Zukunft?

Markiert eine Kanzlerschaft von Olaf Scholz den Beginn einer gut begründeten sozialdemokratischen Renaissance – und ist die SPD hinter Scholz dazu personell und intellektuell in der Lage?

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Von UDO KNAPP

In gerade mal 200 Jahren sind aus Leibeigenen und Landarbeitern auf den feudalen Landgütern in der großen – kapitalistisch gesteuerten – industriellen Revolution weitgehend gut ausgebildete und sozial abgesicherte Arbeiter geworden und in jeder Hinsicht freie und gleichberechtigte Bürger. Die Sozialdemokratie hat auf diesem Weg schon früh ihren Frieden mit dem Kapitalismus gemacht. Sie hat, kämpfend und mit vielen Opfern, dem Versprechen von einer gerechteren Reichtumsverteilung, einem möglichen sozialen Aufstieg bei hartem eigenem Einsatz, flankiert von Klassenbewusstsein und einer meistens intelligenten Realpolitik, einen politischen Ort gegeben.

Der Klimawandel und das Bemühen ihn einzugrenzen, die Globalisierung, die digitale Transformation – all das findet statt. So oder so. Aber ob diese großen Entwicklungen unserer Zeit die gesellschaftliche Spaltung vertiefen oder überwinden, hängt maßgeblich davon ab, dass sie nicht mit Verlusterfahrungen verbunden werden, sondern Fortschritt und Verbesserungen für das eigene Leben ermöglichen. Darum irritieren mich manche volkswirtschaftlichen Konzepte quer durch das politische Spektrum, die nur darauf abzielen, die etwaigen Verlierer dieser Transformation für ihren Verlust materiell zu entschädigen. Denn sie ignorieren, dass es um viel mehr geht als das Materielle.“

Olaf Scholz, FAZ vom 1. März 2021

Die Sozialdemokratie als Partei der Arbeiter hat die westlichen Industriegesellschaften zivilisiert. Ihre große Erzählung von einer selbst erkämpften, gerechteren Welt hat das Leben und den Kampf von Millionen geprägt. Das Versprechen der Sozialdemokratie auf soziale Gerechtigkeit und einem selbstbestimmten Platz für jeden in der heutigen demokratischen Gesellschaft ist im Grundsatz eingelöst. Daher ist mit einem einfachen Fortschreiben dieser Erfolgsgeschichte allein kaum noch Zustimmung und immer schwieriger feste Gefolgschaft zu organisieren.

Wenn die Sozialdemokratie eine Zukunft haben will, dann muss sie für die heutige historische Lage der kapitalistischen Industriegesellschaften eine neue Erzählung schreiben. In dieser Geschichte muss es darum gehen, den Klimawandel einzugrenzen, die Globalisierung im Interesse aller Bürger weltweit zu steuern und die Digitalisierung in das demokratisch rechtstaatliche Verfassungsgefüge einzuhegen, ohne die erreichten Rechte, Freiheiten und Chancen für jeden Einzelnen zu verlieren. Eine gewaltige Herausforderung.

Wahlgewinner Olaf Scholz hat offensichtlich verstanden, dass es beim Erfinden einer solchen Erzählung um mehr gehen muss als um das Absichern und das Ausweiten erreichter sozialer Standards, das Eintreten für den Erhalt von Konsumgewohnheiten und die Pflege von immer weiter ausdifferenzierten Singularitäten. Respekt ist der Kernbegriff, um den herum Scholz versucht, einer solchen Erzählung eines neuen „Wir“ in einer ökologischen Zukunft des Kapitalismus eine Struktur zu geben. Respekt ist zunächst nicht mehr als ein Begriff, der über das Wörterbuch des heute üblichen Polit-Sprech hinausweist und Gefühle weckt. Mit dem Versprechen von Respekt im Zentrum seiner Politik signalisiert Scholz seine Bereitschaft zu Anerkennung, zu Fairness und zu Toleranz im gesellschaftlichen Miteinander bei all den zu erwartenden und unvermeidbaren Einsprüchen, Zumutungen und Veränderungen, die mit dem Neuaufstellen der ökologischen Industriegesellschaft unvermeidbar verbunden sind.

Ein Ruhepunkt im Katastrophen-Geschwurbel

Es ist durchaus vorstellbar, dass der Gewinn an Zustimmung in nur wenigen Wochen vor der Wahl hier seine Ursache hat. Scholz hat im allgemeinen Katastrophen-Geschwurbel hier und zukunftsverweigerndem Beschwören des Althergebrachten dort einen Ruhepunkt, einen Vertrauenspunkt gefunden, der sich an die sozialdemokratische Erfolgsgeschichte anbinden lässt. Schließlich ist es der Sozialdemokratie über so viele Abgründe hinweg gelungen, ihre Versprechen auf soziale Gerechtigkeit einzulösen. Warum soll es ihr nicht gelingen, unter der Maxime von Respekt für alle Seiten und Positionen die ganze Gesellschaft durch die nächste Zivilisationskrise zu führen?

Aber, und nun kommt das große Aber: Eine solche Scholz-SPD, die Partei eines neu begründeten sozialökologischen WIR gibt es nicht. Die SPD hinter Scholz ist die alte SPD geblieben, die ihren historischen Abtritt mit eher traditionell linker Rhetorik zelebriert. Anstatt mutig neue Horizonte auszuleuchten, versucht sie vor allem zu verteidigen, die gut bezahlte, aber immer weniger gebrauchte Arbeit und die dazu gehörenden, staatlich gesicherten Infrastrukturen im längst abgelebten fossilen Industrialismus irgendwie zu erhalten und mitzunehmen. Sie pflegt eine Identitätspolitik, die das immer mehr ausdifferenzierte Singuläre stärker betont als die „grundlegenden Gemeinsamkeiten des demokratischen Zusammenlebens“ (Wolfgang Thierse). Sie hält an ihrer mentalen Distanz zum Westen fest, an ihrer neutralistisch angehauchten Appeasement-Politik, vor allem gegenüber Russland. Sie scheint nicht dazu bereit, eine in jeder Hinsicht konkrete und praktische Verantwortung „im Kampf gegen alle totalitären Gefahren von rechts und links“ (Richard Löwenthal) einzunehmen und entschlossen die westliche Zivilisation zu verteidigen. Das Personal der SPD jenseits von Scholz und seines kompetenten Umfeldes besteht in immer größerer Zahl aus jung eingestiegenen Berufsfunktionären, die Max Webers „Politik als Beruf“ als Karrierepfad missverstehen.

So kann es durchaus auch sein, dass die in den letzten Wochen und Monaten dazugewonnenen 15 Prozent an Wählern vor allem der Erwartung geschuldet sind, dass ein großes „Weiter so wie bisher“ inklusive etwas unvermeidbarem Wandel bei der SPD in besseren Händen ist als bei CDU und Grünen. Der Beginn einer neuen, gut begründeten sozialdemokratischen Renaissance, die eine breit legitimierte Führungsrolle im nächsten Zivilisationsschritt der westlichen Demokratien beanspruchen könnte, ist trotz der beeindruckenden Statur und Führungsansage von Olaf Scholz nicht erkennbar.

UDO KNAPP ist Politologe. Für taz FUTURZWEI schreibt er regelmäßig einen Kommentar.

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