piwik no script img

Archiv-Artikel

GROSSBRITANNIEN: SCHLEIER-DEBATTE ZEUGT VON DOPPELTEN STANDARDS Liberalismus ist keine Einbahnstraße

Jack Straw fühlt sich also unbehaglich, wenn ihm eine verschleierte Frau gegenübersitzt. Jack Straw, britisches Kabinettsmitglied und Präsident des Unterhauses, behauptet, der Schleier sei eine Barriere, die eine Integration von Immigrantinnen verhindere. Er befürchtet Parallelgesellschaften, in denen die verschiedenen religiösen Gruppen nebeneinander leben. Offenbar gibt es für die britische Identität eine Kleiderordnung.

Was ist bloß aus dieser Labour Party geworden? Früher stellte sie die Klassenfrage. Heutzutage teilt sie die Gesellschaft in Religionen auf. Doch auch heute gibt es Klassenunterschiede, die eine Integration verhindern. Zwei Drittel aller Kinder aus Familien, die aus Pakistan oder Bangladesch eingewandert sind, wachsen in Armut auf. Mehr als 20 Prozent von Muslimen zwischen 16 und 24 sind arbeitslos. Wenn Politiker Muslimen vorwerfen, dass sie sich nicht integrieren wollen, vergessen sie die andere Seite: Immer mehr weiße britische Familien ziehen aus Gegenden weg, in denen viele Immigranten wohnen. Und sie nehmen ihre Kinder aus Schulen mit vielen asiatischen Schülern. Straw will nächstes Jahr stellvertretender Labour-Chef werden. So dient seine Bemerkung über verschleierte Frauen wohl vor allem dem Stimmenfang. Aber Straw ist ja nicht allein: Feministinnen, Liberale und Linke übertrumpfen sich in britischen Zeitungen gegenseitig in ihren Argumenten gegen den Schleier. Salman Rushdie, der wegen seiner „Satanischen Verse“ mit einer Fatwa belegt worden war, sagte es prägnant: Der Schleier nervt.

Das sind dieselben Leute, die vor kurzem die dänischen Mohammed-Karikaturen zu Recht mit dem Hinweis auf Meinungsfreiheit verteidigt haben. Aber dieser Liberalismus ist keine Einbahnstraße. Natürlich ist es irritierend, sich mit jemandem zu unterhalten, dessen Gesicht man nicht sehen kann. Für Nichtkatholiken ist es ja auch unverständlich, warum man bei der Beichte in einem Schrank kniet und mit einem Pfarrer spricht, der hinter einer Holzwand versteckt ist. Aber wer sich für bürgerliche Freiheiten einsetzt, muss auch einen Schleier aushalten können. RALF SOTSCHECK