GESCHICHTE AUS WACHS : Gruselige Fröhlichkeit
Sie sitzt an ihrem Schreibtisch und lächelt mich direkt an: Anne Frank. Das jüdische Mädchen mit den großen, braunen Augen ist der neue Star im Wachsfigurenkabinett Madame Tussauds.
Sie trägt ein schlichtes weißes Kleid und hält einen Stift in der Hand. Vor ihr liegt die rot-weiß karierte, literarische Ikone über die Judenverfolgung in der NS-Zeit: ihr Tagebuch.
Es ist aufgeschlagen beim 16. Oktober 1942, das war drei Monate nachdem die Familie Frank in einem Amsterdamer Hinterhaus untergetaucht war. Die Anne, die ich sehe, ist 13 Jahre alt. Ich gehe ganz dicht an sie heran, um die Details genauer betrachten zu können. Auf ihrem linken Arm kann ich zwei blasse Leberflecke erkennen. Die zierliche Uhr an ihrem Handgelenk zeigt 13.56 Uhr an. Wahrscheinlich ein guter Zeitpunkt, um der imaginären Freundin Kitty einen Brief zu schreiben, denn vor allem tagsüber mussten die Versteckten selbst so leise wie unsichtbar sein.
Neben Anne befinden sich zwei grüne Holztüren und ein Fenster. Die eine Tür führte ins Zimmer ihrer Eltern, die andere zum Korridor mit Waschbecken und Toilette. Bald soll das Flurlicht an- und ausgeschaltet und eine der Türen auf- und zugemacht werden können, wobei typische Geräusche erklingen: Interaktion für das Publikum, um sich dieser Figur noch näher zu fühlen. Mehrmals schaue ich dem Abbild von Anne Frank in das lächelnde Gesicht, in die fröhlichen Augen. Es ist befremdlich, fast gruselig, weiß man doch, was mit ihr passierte. Irgendwie fühlt es sich nach Relativierung des Geschehenen an, sie so auszustellen. Andererseits ist es schön – es zeigt, dass sie noch heute wichtig ist. Ein Star. Zehn Schritte weiter blicke ich in das grimmige Gesicht von Adolf Hitler. Wenn er für Tod und Verbrechen steht, dann steht Anne Frank wohl für etwas Größeres, nämlich Hoffnung und Leben.
ANDRIN SCHUMANN