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Archiv-Artikel

GEGEN DAS IMPONIERGEHABE EINER PATRIARCHALISCH STRUKTURIERTEN SPIESSERNATUR Vögelnde Vögel, ihr Mut macht sie frei

LIEBLING DER MASSEN

Ein heftiger Windstoß bauscht Meldungen auf, verzerrt Reportagen und bringt Sportergebnisse durcheinander. Im Grunde ist es tollkühn, was ich hier versuche: mitten auf einer Landwiese, „an der frischen Luft“, wie irre Öko-Fundamentalisten die sich willkürlich entfesselnden Naturgewalten euphemistisch nennen würden, die Zeitung zu lesen. Endgültig bestraft wird meine Naivität, als mir das Feuilleton davonfliegt.

Mit flehentlicher Miene blicke ich den entschwindenden Filmkritiken hinterher, doch die menschenfeindliche Umgebung kennt keine Gnade. Hämisch lachend trägt der Wind die von ihm aus einem dumpfen Unterlegenheitskomplex heraus verachteten Insignien der Zivilisation für immer fort. Der Wolf, der Affe, der Rasen und der Steinzeitmensch – sie alle haben sich arschkriecherisch mit der Natur arrangiert und lesen keine Zeitung. Doch wer wie ich nicht nur über einen eigenen Geist verfügt, sondern diesen gar noch pflegen will, muss bitter dafür büßen.

Um dem Katastrophenszenario die Krone aufzusetzen, fällt jetzt auch noch von irgendwo ein Vogel runter und zappelt wie blöd auf dem Rasen rum. Im ersten Moment denke ich: „Na gut, der stirbt halt.“ Im zweiten Moment sehe ich jedoch, dass es sich um zwei Vögel handelt, so dass ich im dritten Moment meine, einen kleinen Greifvogel sowie einen noch kleineren Singvogel auszumachen, was bedeuten würde: nur einer stirbt, während der andere tatkräftig daran beteiligt ist. Dann stieben die beiden Vögel plötzlich hoch, steigen miteinander in die Lüfte, zu einem einzigen Federklumpen verhakt und zusammengeballt, also denke ich im vierten Moment: „Aber holla, die poppen natürlich!“ Was man sich an einem wunderschönen Frühlingstag gerne so zurechtträumt, halb entspannt, halb überspannt auf einer Wiese liegend, untätig, da von einer mörderischen Natur brutal am Zeitungslesen gehindert.

Doch im fünften Moment fällt mir auf, dass die beiden Lover einander dabei ziemlich rau beharken. Mit den Schnäbeln, den Flügeln und mit lautem Gezänk. Glatter Dirty Tschilp in diesem Zusammenhang. Ich muss mir eingestehen, dass mich ihr Treiben gerade selbst ein bisschen anmacht.

Im sechsten Moment stelle ich fest, dass die Vögel nicht nur sichtlich von derselben Art sind, sondern obendrein vom selben Geschlecht – bei Vögeln sieht man das ja gut, die DNA lässt sich vom geübten Auge leicht entschlüsseln. Was jedoch weiterhin zwei Deutungsmöglichkeiten zulässt: Entweder kämpfen sie um Reviere, Würmer oder Medaillen, oder sie ficken trotzdem, eben weil sie den ganzen Quatsch nicht nötig haben: das Imponiergehabe einer patriarchalisch strukturierten Fascho-Fauna sowie die sexuellen Konventionen und das stramm klerikale Fortpflanzungsgebot einer fortschritts- und pressefeindlichen Spießernatur. Wenn sie wollen, können sie später immer noch ein elternloses Hamsterbaby adoptieren und eine Patchwork-Kommune in einem verlassenen Storchennest gründen, niemand hindert sie daran, ihr Mut macht sie frei.

Aber gibt es überhaupt so coole Vögel, oder sind das nicht meist so Federfaschos, in deren Ideologie es das aus ihrer Sicht Andersartige nicht geben darf? Worauf immerhin das Braun ihres Gefieders hindeuten würde, mit den martialisch wirkenden blauweiß abgesetzten Flügelbinden. Dazu der ständige Kollektivgesang – SA marschiert, der Buchfink singt –, der sich im Nachkriegsdeutschland bis heute nie wieder ganz vom Ruch des Völkischen zu befreien vermochte. Wer abends mal auf einer Waldwiese saß, weiß, warum.